Der Einfluss der Umgebung auf das Lernen
Wenn sich die Annahmen vom Lernen verändern, verändern sich auch die Räume. Und auch umgekehrt: In Schule beeinflussen Architektur und Inneneinrichtung – stärker als es Lehrenden häufig bewusst ist – ob Lernen erfolgreich gelingen kann. Traditionelle Raumstrukturen können dann nicht nur die Entfaltung von Potenzialen erschweren, sondern auch wichtige Schulentwicklungsprozesse wie die Umsetzung von Inklusion. Wie man aus diesen Raumstrukturen neue Umgebungen und Lernarten entstehen lassen kann, zeigt Silke Henningsen.
Silke Henningsen
ist stellvertretende Schulleiterin an der 2016 neu gegründeten IGS Süd in Frankfurt-Sachsenhausen. Als Mitglied der Planungsgruppe konnte sie eine Schule mit innovativem Konzept aufbauen. Die ausgebildete Gymnasiallehrerin kam früh mit der integrierten Gesamtschule als Schule FÜR ALLE in Kontakt und entschied sich, Wege des gemeinsamen Lernens von ganz unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern zu begleiten. Inklusion und Bildungsgerechtigkeit sind ihr dabei Herzensanliegen für eine zukunftsfähige Bildung.
Das Erste, was wir getan haben, war, erst einmal die Tafel abzuschrauben.
Drei Fragen an Silke Henningsen
Wir haben die stellvertretende Schulleiterin Silke Henningsen gefragt, welche Empfehlungen sie hat, um erste Schritte einer räumlichen Umgestaltung möglich zu machen:
Inwiefern können neue räumliche Strukturen die Förderung von individuellen Potenzialen verbessern?
Räume, die verschiedene Arten zu lernen ermöglichen und die die freie Wahl erleichtern, können inklusiver sein. Der Raum kann manche pädagogische Probleme lösen – beispielsweise durch Nischen für ruhige Rückzugsorte, wo sich die Kinder eigenständig oder auch auf Anweisung hin zurückziehen können oder auch ruhige Lichtverhältnisse, die beispielsweise für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen oft eine große Rolle spielen. Auf der anderen Seite können sich Kinder und Jugendliche in den spezifischen Fachbüros ihren Interessen und auch individuellen Begabungen widmen. So hat eine unserer Schülerinnen bereits in Jahrgangsstufe 7 Apps programmiert. Dafür sorgt aber natürlich nicht allein der Raum – der veränderte Raum muss auch von entsprechenden Lernkonzepten begleitet werden. Bei uns sind dies die jahrgangsgemischten Klassen und die recht freie Gestaltung der Lernbausteine, die ein Drehtürmodell jederzeit möglich machen.
Was könnten erste Schritte sein, um alte Räume sinnvoll und ohne große Renovierungsarbeiten für neue Lernformen zu verändern?
Meine Empfehlung:
- Schülerinnen und Schüler einbeziehen und nach ihren Wünschen fragen.
- Mehr Gruppenarbeitsplätze schaffen.
- Sitzordnungen mithilfe bestehender Möbel häufiger variieren und dadurch andere Lernsettings nutzen.
Einige Ihrer Vorschläge, wie die Tafel abzuschrauben oder das Pult rauszustellen, stellen die klassischen Lernsettings radikal auf den Kopf, die immer noch viele Lehrkräfte bevorzugen. Warum lohnt es sich Ihrer Meinung nach trotzdem?
Mit meinem Pult hatte ich ein Stück weit ein Königreich. Das nicht mehr zu haben und in einen Veränderungsprozess zu kommen war auch für mich nicht einfach. Ich habe mich gefragt: Was mache ich mit mir, wenn ich nicht rumsitze? Gehe ich zu jemandem hin und biete meine Hilfe an? Das war für mich ein großer Prozess, aber der Effekt auf das Lernen und die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern war groß und spricht für sich. Manchmal muss man die Pionierrolle einnehmen und sich Gleichgesinnte suchen, um dann wiederum das restliche Kollegium davon zu überzeugen.
Die folgenden Tipps und Informationen stammen aus dem digitalen Workshop »Neu lernen in alten Räumen« von Silke Henningsen. Sie haben Interesse an einer Wiederholung des Workshops? Dann melden Sie sich gerne per Mail bei uns.
Das Schulkonzept
Um Lernprozesse neu zu gestalten und zu implementieren, hilft es, bei anderen zu schauen, was sie anders machen. Wir stellen Ihnen deshalb das Konzept der IGS Süd anhand von fünf Säulen kurz vor.
- Fachbüros: Die Schülerinnen und Schüler können sich grundlegend aussuchen, in welchem Fachbüro sie arbeiten möchten. Dort können sie Lernbausteine in ihrem eigenen Tempo abarbeiten. Zur Unterstützung stehen ihnen lernbegleitende Lehrkräfte zur Seite. Die Arbeit ist in Kleingruppen, als Tandem oder als Einzelarbeit im sogenannten Silencium möglich. Haben die Schülerinnen und Schüler einen Lernbaustein absolviert und fühlen sich sicher im Inhalt, schreiben sie einen unbenoteten Test. So werden unterschiedliche Lerntempi berücksichtigt.
- Kooperative Projektarbeit: Als Grundlage für die Lerninhalte dienen die Sustainable Development Goals (SDG). Die lernbegleitenden Lehrkräfte suchen sich ein Thema daraus aus und die gesamte Klasse eignet sich das nötige Vorwissen an. Dabei wird fächerübergreifend gearbeitet. Anschließend entstehen Gruppen zu einem Aspekt des Wahlthemas. Die Umsetzung kann praktisch sein und Lernzugänge erfolgen auf unterschiedlichen Niveaus über das Material. Dabei können gleichzeitig die Interessen der Jugendlichen und curriculare Anforderungen berücksichtigt werden. Für das Ergebnis der Gruppenarbeit gibt es Akzeptanzkriterien und die Projekte werden mündlich vorgestellt.
- Werkstätten: Zu zwei festgelegten Zeiten in der Woche können Werkstätten zu unterschiedlichen Themen gewählt werden, die kreatives, gestalterisches und kooperatives Arbeiten fördern und jeweils ein halbes Jahr besucht werden. Dabei werden Fächer wie Kunst, Musik, Informatik oder Werken abgedeckt. Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf können besonders berücksichtigt werden und individuellen Tätigkeiten nachgehen.
- Dialogische Lernbegleitung: Um die Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit engmaschig zu begleiten, gibt es die dialogische Lernbegleitung. Die Schülerinnen und Schüler besitzen ein Logbuch zur Dokumentation. Beim Unterschreiben von Einträgen entstehen spontane Gespräche darüber, was gut und was weniger gut funktioniert hat. Alle zwei bis drei Wochen gibt es ein fünfminütiges Gespräch, wo zurückgeblickt wird und neue Vereinbarungen und Ziele festgehalten werden, sowie zweimal im Jahr ein Lernentwicklungsgespräch mit den Eltern. Noten gibt es erst ab der neunten Klasse.
- Jahrgangsgemischte Klassen: Die Jahrgänge fünf bis sieben und acht bis zehn werden in jahrgangsgemischten Klassen unterrichtet. Das Ziel: gegenseitige Unterstützung und voneinander lernen. So erfahren ältere und jüngere Jugendliche einen Perspektivwechsel und erhöhte Selbstwirksamkeit. Es entstehen mehr individuelle Lernformen. Anhand der Räume werden unterschiedliche Bedürfnisse je nach Alter abgedeckt.
Reflexion Ihres eigenen Schulkonzeptes
Überlegen Sie: Gibt es an Ihrer Schule schon erste Maßnahmen, die den oben beschriebenen Ansätzen ähneln? Was funktioniert gut und könnte weiter ausgebaut werden?
Mehr Infos
Sie möchten mehr über das Schulkonzept erfahren? Dann lesen Sie auf der Seite der IGS Süd weiter.
Durch veränderte Räume neu lernen
Tipp zum Start
Fangen Sie im Rahmen einer Projektwoche an und wählen Sie als Thema den Schwerpunkt »Räume«. Erarbeiten Sie gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Lösungen zu der Frage, wie die Räume vor Ort renoviert und verändert werden können, sodass sie mehr Möglichkeiten bieten.
Trainingsaufgabe
Stellen Sie das Pult probeweise raus und beobachten Sie, was sich verändert. Was bedeutet das für Ihre Rolle? Und was tun Sie, wenn Sie nicht am Pult sitzen?
Sie möchten größere räumliche Umbrüche erzeugen?
Dann hat Silke Henningsen folgende Ideen für Sie:
Veränderungen nachhaltig und im Team umsetzen
- Holen Sie sich Inspiration: Hospitieren Sie an Schulen mit innovativen Raumkonzepten und berichten Sie an Ihrer Schule.
- Schließen Sie sich mit anderen Überzeugten zusammen und erarbeiten Sie Ideen, die Sie dem Rest vorstellen können. Alternativ ist der Austausch mit anderen Schulen besonders wichtig, wenn Sie selbst an einer kleinen Schule und wenig im Team arbeiten.
- Überlegen Sie, wer noch unterstützen kann: Vielleicht die Schulentwicklungsberatung oder Unternehmen mit Fachwissen und Geldern?
- Die Veränderung muss beim Kollegium anfangen. Viele Lehrkräfte ziehen nach wie vor klassische Lernsettings vor, um gewohnte Muster nicht verlassen zu müssen.
- Die Bereitschaft, Zeit für Austausch und Diskussion zu schaffen, ist essenziell, um Veränderung zu ermöglichen.
- Mit jüngeren Jahrgängen zu starten und Veränderungen dort nachhaltig zu verankern ist leichter, als ältere Jahrgänge von für sie massiven Veränderungen zu überzeugen.
Argumente für verändertes Lernen in der Schule
Hier finden Sie nützliche Argumente für eine Veränderung Ihrer Schule auf einen Blick, die Sie im Gespräch mit dem Kollegium, Eltern und natürlich auch Ihren Schülerinnen und Schülern einsetzen können.
Lernmaterialien und Methoden
Klar ist: Es können sich nicht nur die Räume verändern. Mit der neuen Struktur muss auch ein Paradigmenwechsel folgen, um Zukunftskompetenzen nachhaltig zu vermitteln. Schauen Sie sich also nicht nur die Räume an, sondern auch die Lernmaterialien und Methoden. Können bestehende Materialien neu aufbereitet werden, um neue Arten des Lernens zu begünstigen?
Methodentipps
Scrum4Schools
Diese agile Lernmethode lehnt sich an agiles Projektmanagement aus der Softwareentwicklung an. Sie soll Schülerinnen und Schüler aktiv am Lernprozess beteiligen und ihnen Zukunftskompetenzen vermitteln. Tipp von Silke Henningsen: Teilweise bieten Unternehmen auch Pro-Bono-Kräfte an, die in der Schule Projektmanagement lehren. Zum Download
Feedbackburger
Wenn Noten nicht abgeschafft werden können, kann darüber hinaus (auch in der Gruppe) elaboriertes Feedback gegeben werden, um Lernprozesse zu verbessern. Dabei wird nicht bewertet, sondern beobachtet und erklärt. Zum Download
Reflexion
Überlegen Sie, gerne auch zusammen mit einer Gruppe aus dem Kollegium:
- Welche kurzfristigen Veränderungen sind bei Ihnen mit bestehendem Mobiliar möglich?
- Welche Veränderungen entstehen daraus für das Lernen?
- Was könnten Sie am Lernmaterial verändern und welche neuen Methoden möchten Sie nutzen?
- Welche Argumente müssen Sie verwenden, um von Ihrem Vorhaben zu überzeugen?
Zum Weiterlesen
Buchtipps
Beltz: Lernräume gestalten. Pädagogik 6/2020. Zum Journal
Bertelsmann Stiftung: Kompetenzen für das 21. Jahrhundert. Zum Projekt
Institut für zeitgemäße Prüfungskultur: Auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Lern- und Prüfungskultur. Zur Website
OECD: 21st Century Children. Zur Website
Robert Bosch Stiftung (Deutsches Schulportal): UN-Staatenprüfung Inklusion: Förderschulen widersprechen der UN-Behindertenrechtskonvention. 2023. Zum Artikel
Sliwka, Anne, Klopsch, Britta: Deeper Learning in der Schule. Beltz, 2022.
Downloads
Die Referentin hat für ihr Konzept umfassende Zeichnungen und Materialien angefertigt, die sie freundlicherweise bereitstellt. Das Copyright sämtlicher Zeichnungen und Dateien liegt bei Silke Henningsen.
- Lerntafel Scrum Projekt (öffnet einen neuen Tab) PDF | 2 MB
- Feedbackburger (öffnet einen neuen Tab) PDF | 122 KB
- Argumente dafür, dass Schule sich verändern muss (öffnet einen neuen Tab) PDF | 136 KB
- Konkrete Veränderungen für Unterricht und Lernen (öffnet einen neuen Tab) PDF | 158 KB
- Raumgestaltung (öffnet einen neuen Tab) PDF | 237 KB
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