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Mathematik in der Grundschule: Chancen für Jungen und Mädchen

Call your expert: Prof. Dr. Anneke Steegh

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An unserer Grundschule (1. bis 4. Klasse) findet schulintern ein jährlicher Kopfrechenwettbewerb statt, zu dem aus jeder Klasse die zwei besten Rechnerinnen oder Rechner entsandt werden. Leider war es in den letzten Jahren so, dass aus den meisten Klassen größtenteils Jungen geschickt wurden, »weil das nun mal die zwei besten Rechner in meiner Klasse sind« (O-Ton der meisten Klassenlehrerinnen und -lehrer). Bei der Siegerehrung vor der ganzen Schule stehen dann folgerichtig auch fast nur Jungen auf dem Podest. Mein Vorschlag, doch aus jeder Klasse je ein Mädchen und einen Jungen zum Wettbewerb zu schicken, findet im Kollegium kaum Gehör und es gibt Gegenstimmen wie: »Da würde man ja die rechenstarken Jungen diskriminieren«, »Es geht ja darum, die besten Rechner zu finden« und »Was für einen Sinn macht dann so ein Wettbewerb überhaupt?« Für mich fühlt sich dieses Vorgehen trotzdem falsch an, da es Mädchen entmutigt und ihnen damit vermittelt wird, dass Mathe eben ein »Jungsfach« ist. Leider fehlt es mir an (niedrigschwelligen, leicht verständlichen) Argumenten.

Würden Sie eine geschlechtergetrennte Durchführung und Auswertung von Kopfrechenwettbewerben in der Grundschule befürworten? Können Sie mir Fachartikel empfehlen, die mein Anliegen unterstützen? Welche Argumente könnte ich in meinem Kollegium vorbringen?

Antwort von Prof. Dr. Anneke Steegh

Kopfrechenwettbewerbe an Grundschulen bringen zweifellos sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich. Diese Wettbewerbe können für Kinder eine wertvolle Gelegenheit sein, ihre mathematischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und weiter auszubauen. Sie ermöglichen, spielerisch das Interesse an Mathematik zu wecken und zu zeigen, dass mathematische Kompetenz wertgeschätzt wird. Doch es ist wichtig zu hinterfragen, ob solche Wettbewerbe tatsächlich allen Kindern die gleichen Chancen bieten.

Der Wettbewerbscharakter kann insbesondere bei Mädchen, die oft weniger Selbstvertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten haben, ein Gefühl der Unterlegenheit hervorrufen und verstärken. Geschlechterstereotype, die Mathematik als »Jungsfach« darstellen, könnten so unbewusst gefestigt werden. Studien zeigen, dass äußere Einflüsse und mangelnde Unterstützung das Selbstbild von Mädchen in Bezug auf Mathematik negativ beeinflussen können, unabhängig von ihren tatsächlichen Fähigkeiten. Ein Wettbewerb, in dem systematisch mehr Jungen als Mädchen erfolgreich sind, kann den Eindruck erwecken, dass Jungen mathematisch begabter sind, was langfristig das Selbstbewusstsein und die Leistung von Mädchen beeinträchtigen kann.

Auf den ersten Blick mag ein geschlechtergetrennter Wettbewerb wie eine gute Lösung erscheinen, da er es Mädchen erlauben würde, ihre Fähigkeiten ohne direkten Vergleich mit Jungen zu zeigen. Doch diese Maßnahme geht nicht die tieferliegenden Probleme an, die mit Geschlechterstereotypen und daraus resultierenden ungleichen Ausgangsbedingungen verbunden sind. Statt auf Trennung zu setzen, sollten wir alternative Förderansätze in Betracht ziehen, die das Selbstvertrauen und die mathematischen Fähigkeiten aller Kinder stärken.

Die Befürchtung, dass »rechenstarke» Jungen durch alternative Ansätze benachteiligt werden könnten, lässt sich entkräften, indem man betont, dass es nicht darum geht, Leistung zu unterdrücken, sondern alle Kinder gleichermaßen zu fördern. Anstelle einer geschlechtergetrennten Lösung, die Ungerechtigkeit vermitteln könnte, sollten wir auf Fördermaßnahmen setzen, die den individuellen Lernbedürfnissen gerecht werden und den Wettbewerbsgedanken zurückstellen. Kooperative Lernformen und differenzierte Angebote bieten sowohl Jungen als auch Mädchen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten in einem unterstützenden und motivierenden Umfeld weiterzuentwickeln. Zudem sollten wir bedenken, dass Geschlecht nicht mehr als binär angesehen wird und geschlechtergetrennte Ansätze die Vielfalt der Identitäten im Klassenzimmer nicht berücksichtigen.

Statt auf Wettbewerbe zu setzen, könnten wir inklusivere Ansätze wählen, um das mathematische Verständnis und die Freude an Mathematik bei allen Kindern zu fördern: 

  • Kooperative Lernprojekte, bei denen Kinder in Teams gemeinsam Probleme lösen, stärken nicht nur das mathematische Denken, sondern auch soziale Kompetenzen wie Kommunikation und Teamarbeit.
  • Differenzierte Lernangebote, die auf individuelle Stärken eingehen, bieten eine Möglichkeit, ohne direkten Vergleich zu fördern. 
  • Auch spielerische Formate wie Stationenlernen könnten Kindern ermöglichen, Mathematik in einem unterstützenden Umfeld zu erleben und so langfristig die Fähigkeiten, das Interesse und das Selbstvertrauen aller Kinder weiterzuentwickeln – unabhängig vom Geschlecht oder Leistungsdruck.

Tipps zur inklusiven Förderung

Tipp 1: Das hilft – mathematisches Selbstbewusstsein stärken 

Online Interview mit der Bildungsforscherin Anke Heyder 

Auszug: »Eine Erklärung dafür [Geschlechterunterschiede im Mathematischen Selbstkonzept] sind die Geschlechterstereotype in der Gesellschaft. Wenn Jungen eine schwächere Leistung in Mathematik bringen, dann wird das häufiger auf mangelnde Anstrengungsbereitschaft zurückgeführt. Bei Mädchen dagegen werden die Fehler eher mit mangelnder Begabung erklärt. Solche Muster können das Selbstkonzept der Kinder beeinflussen.« Zum Interview.

Tipp 2: Alternative Wettbewerbsformate

Online-Knobelteam-Wettbewerb

Auszug: »Knobelteam-Wettbewerb der Bezirksregierung Düsseldorf für Teams mit 2 bis 5 Teilnehmenden. Er findet immer in der letzten Woche vor den NRW Sommerferien statt. Teilnehmen können alle Schülerinnen und Schüler aller Jahrgangstufen von 1 bis 13/Q2.« Zum Wettbewerb. 

Wettbewerb zur Präsentationskompetenz

Auszug: »Sie und Ihre Klasse wählen Themen aus dem Sachunterricht, die anhand eines Posters präsentiert werden.« Zum Wettbewerb.

Wir sind überzeugt

Praxisorientiertes Wissen bei schulischen und außerschulischen Bildungspraktikerinnen und Bildungspraktikern zum Thema Individuelle Förderung unterstützt dabei, dass mehr Jugendliche die Chance erhalten, ihre Potenziale zu entwickeln. Ihre persönlichen Fragen zur Talententwicklung und Talentförderung lassen wir daher von Expertinnen und Experten beantworten und stellen sie hier in regelmäßiger Folge vor. Die heutige Frage wurde von Prof. Dr. Anneke Steegh beantwortet.

Portraitfoto von Prof. Dr. Anneke Steegh
© Sarah Peters

Prof. Dr. Anneke Steegh

Anneke Steegh arbeitet am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) und hat aktuell eine Gastprofessur für Gender und Diversity an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Leibniz Universität Hannover. Sie forscht zu MINT-Identität und Mechanismen zur Erklärung von Geschlechterunterschieden im MINT-Bereich. Außerdem gewann Sie 2021 den Genderforschungspreis der CAU Kiel mit ihrer Doktorarbeit über die Rolle von Geschlechterstereotypen und soziale Unterstützung in MINT-Schüler-Wettbewerben.

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