Zum Hauptinhalt der Seite springen

Mental Health im Schulalltag

Zwischen Potenzialentfaltung und psychischer Gesundheit

Zum Thema

Die Anforderungen an Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Gleichzeitig haben psychische Belastungen bei Jugendlichen deutlich zugenommen. Dabei steht fest: Die psychische Gesundheit ist entscheidend dafür, ob Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, ihr Potenzial zu entfalten. Doch wie können Lehrkräfte mit diesen Herausforderungen umgehen? Welches Hintergrundwissen brauchen sie, um die psychische Gesundheitskompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler einzuschätzen und gleichzeitig die Auswirkungen auf Gruppenprozesse zu kennen und im Blick zu behalten? Wann reicht es aus, unterstützend zuzuhören, und ab wann sollten qualifizierte Fachkräfte wie Psychologinnen oder Sozialarbeiter hinzugezogen werden? Wie gelingt es, in einem zunehmend belastenden Umfeld sowohl eine unterstützende Lernatmosphäre zu schaffen als auch die eigenen Grenzen nicht aus den Augen zu verlieren?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben wir mit der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Dorothea Ehrlich gesprochen und sie um Tipps und Anregungen gebeten.

Foto von der Psychotherapeutin Dorothea Ehrlich

Dorothea Ehrlich

Foto von der Psychotherapeutin Dorothea Ehrlich

Dorothea Ehrlich

Dorothea Ehrlich ist Diplom-Psychologin, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Verhaltenstherapeutin. Sie berät die Akademien von Bildung & Begabung während der Durchführung und schult im Vorfeld die Akademie-Teams. Dorothea Ehrlich arbeitet in ihrer Privatpraxis in Leverkusen-Schlebusch. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Im Gespräch mit Dorothea Ehrlich

Psychische Belastungen können sich im Unterricht unterschiedlich äußern: von Rückzug und Unaufmerksamkeit bis hin zu impulsivem oder störendem Verhalten. Wie können Lehrkräfte Anzeichen von psychischen Belastungen im Unterricht erkennen?

Zunächst gilt es immer dann genauer hinzuschauen, wenn ein Schüler beziehungsweise eine Schülerin sich plötzlich anders als sonst verhält. Ein sonst eher lauter Charakter zieht sich zurück, ist abwesend und bringt keine Beiträge mehr ein oder ein normalerweise unauffälliger Schüler oder Schülerin drängt sich fortwährend in den Vordergrund beziehungsweise missachtet Regeln bewusst und provokant. Hinter akuten Wesensveränderungen stecken oft unerkannte psychische Belastungen. Weiterhin sind ständige Müdigkeit, starke Gewichtsschwankungen, häufige Abwesenheit vom Unterricht sowie Vermeidungsverhalten oder Ironie allgemein wichtige Warnhinweise für Lehrkräfte.

Darüber hinaus verstehen wir Therapeuten und Therapeutinnen massiv störendes Verhalten im Unterricht grundsätzlich als eine Einladung zu einem Dialog. Viele Kinder und Jugendliche verfügen über wenige Strategien, um sich selbst in belastenden Situationen zu regulieren oder sich unter Herausforderungen selbstwirksam erleben zu können. Die vielfältigen Anforderungen, unter denen besonders Jugendliche stehen, führen häufig zu Überforderung, Stress, Leistungsdruck und Misserfolgserwartungen. 

Wann sollten Lehrkräfte aktiv werden? 

Es wäre wünschenswert, wenn Lehrkräfte auch über den Unterrichtsstoff hinaus »ein Auge auf ihre Schüler und Schülerinnen« hätten. Wenn oben genannte Wesensveränderungen wahrgenommen werden, hat es sich als äußert wirksam und effektiv gezeigt, wenn die Lehrkraft ein persönliches Gesprächsangebot macht. Dabei geht es nicht um eine aufwendig inszenierte große Besprechung. Das kurze nach der Stunde zur Seite nehmen und dabei eine Frage wie: »Ist bei dir alles okay? Falls du über irgendetwas sprechen möchtest, kannst du das gerne mit mir machen!«, zu stellen, reicht zunächst völlig aus. Den Schülerinnen und Schülern soll bewusstwerden, dass sie mit ihren Themen nicht allein bleiben müssen. 

Was ist in solchen Situationen angemessen? 

Es ist wichtig, dass Gesprächs- oder Hilfsangebote niederschwellig, leicht umsetzbar und vertraulich sind. Zu einem Gespräch zwingen kann man niemanden, aber ein fortwährendes Angebot schafft Vertrauen und Verlässlichkeit. Sollte sich ein Problem als komplexer herausstellen, wäre die persönliche »Weitergabe« an einen Schulsozialarbeiter, eine Schulsozialarbeiterin oder eine Vertrauenslehrkraft wünschenswert. 

Um den Prozess nicht zu gefährden, muss tatsächlich darauf geachtet werden, dass die Hilfe prompt und ohne Verzögerung erfolgt. Häufig öffnen sich Jugendliche nur schwer und einmalig – wenn dieses Vertrauen durch ein Vertrösten auf einen Termin in zwei Wochen verletzt wird, könnte das Fenster der Hilfsmöglichkeit sich bereits wieder schließen. 

Kann es nicht für Lehrkräfte schwierig sein, dies zeitlich umzusetzen, und sie zusätzlich belasten?

Mir ist bewusst, dass der Schulalltag für Lehrkräfte ebenso stressig und anspruchsvoll wie für ihre Schülerinnen und Schüler ist, und dass die Vorstellung, noch persönliche Gespräche nach dem Unterricht zu führen, für manch Einen oder Eine ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint. Dennoch möchte ich nachdrücklich dazu anregen, die psychische Situation der Kinder zu einer Priorität im Schulalltag zu machen. In vielen Fällen sind aufmerksame Lehrerinnen und Lehrer die einzigen erwachsenen Bezugspersonen im Leben der Kinder, die ihnen Hilfe anbieten können.

Praxistipps

Stolperfallen vermeiden 

Immer wenn man eine Gruppe leitet oder einen Gruppenprozess begleitet, kann man in eine Art »Stolperfalle« geraten. Hierbei handelt es sich um spontane, individuell gefärbte emotionale Interpretationen von sozialen Situationen oder Reaktionen. Typische Stolperfallen für Lehrkräfte sind zum Beispiel: 

  • Allmachtsphantasien: »Die Person hat sich nur mir anvertraut. Wenn ich das Geheimnis jetzt teile, wird sie niemals mehr jemandem vertrauen, nur ich kann ihr helfen.«
    • Gefahr, selbst in die Überforderung zu kommen
  • Überidentifikation: »Ich kenne das Verhalten sehr gut, das war bei mir/meiner Schwester/meinem Sohn usw. genau das Gleiche.«
    • Gefahr der falschen Annahmen
  • Teflonschicht: »An mir prallt alles ab. Ich lasse keine persönlichen Emotionen in den Kontakt kommen, so bin ich sicher.«
    • Gefahr, stets außen vor zu bleiben
  • Lupe: Ein Symptom wird direkt als Vollbild der Problematik interpretiert.
    • Gefahr der falschen Annahmen
  • Ironie: Grundsätzlich wird mit ironischen Kommentaren und Bemerkungen reagiert.
    • Gefahr, das Gefühl zu vermitteln, dass man Bedürfnisse, Annahmen oder Beiträge nie ernst nimmt

In Balance bleiben 

Für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte ist es wichtig, eine Balance zwischen den Anforderungen des Unterrichts und der Fürsorge für die Schülerinnen und Schüler zu finden, ohne sich selbst zu überlasten. Diese konkreten Techniken oder Ressourcen können dabei helfen:

  • Fokus: Es ist hilfreich, sich bewusst zu machen, mit »wem« man arbeiten möchte. Wenn man den Fokus der Zusammenarbeit ebenso auf die psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler legt, wie auf die Vermittlung des Unterrichtsstoffes, wird man schnell eine Zunahme an Leistungsbereitschaft und Lernmotivation erleben. Dies führt wiederum zu höherer Zufriedenheit der Lehrkräfte während der Arbeitszeit. 
  • Ausgleich: Um als Lehrer oder Lehrerin selbst so entspannt und kraftvoll wie möglich unterrichten zu können, ist ausreichender persönlicher Ausgleich in der Freizeit wichtig. Dieser kann zum Beispiel durch Sport, diverse Hobbys, Entspannungsverfahren, Kurzurlaube, Naturerlebnisse oder Ähnliches erreicht werden. 
  • Kollegialer Austausch: Darüber hinaus ist der kollegiale Austausch während der Arbeitszeit für die psychische Gesundheit von Lehrenden sehr wichtig. Sich im Kollegium wertgeschätzt und ernstgenommen zu fühlen sowie sich bei auftretenden Schwierigkeiten mit einer Klasse oder einzelnen Jugendlichen vertrauensvoll an andere wenden zu können, führt zu höherem Selbstwert, mehr Selbstwirksamkeit, gesteigerter Fehlertoleranz und Mut im Umgang mit den Klassen. 
  • Fortbildung: Regelmäßige angeleitete Fortbildungen zum Thema Selbstfürsorge sowie Stressmanagement sollten zum Schulalltag dazugehören. 

Zum Weiterlesen

Seethaler, Elisabeth; Giger, Silvia; Buchacher, Walter: Gesund und erfolgreich Schule leben: Praxis und Reflexion für Lehrerinnen und Lehrer. utb, 2019.

Psychische Gesundheit und Schule. Unterrichtsprogramm. Handbuch psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen verstehen. Mentalhealth.org, 2020. Zum Handbuch.

Grafik zur Veranschaulichung des Bereiches Literatur unseres Hybriden Lernraums. Ein Pfeil zeigt auf drei Buecher, die neben einem Werkzeugkasten stehen.

Weitere Angebote im Hybriden Lernraum

Hybrider Lernraum

Das Format »Im Gespräch mit« ist Teil des Hybriden Lernraums. Hier finden Sie für Ihre Arbeit in Schule oder an außerschulischen Lernorten Methoden, Informationen und Praxistipps aus Wissenschaft und Praxis – als Texte, Podcasts, Videos oder Workshops.

Zurück zur Startseite

Sie haben Fragen zu unseren analogen und digitalen Formaten?

Schreiben Sie uns gerne!