Ich sehe was, was Du nicht siehst!
Individuell Fördern heißt, Kinder und Jugendliche zu unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Dazu müssen ihre Stärken und Talente jedoch zunächst wahrgenommen werden. Und das ist leichter gesagt als getan: Fähigkeiten sind nicht immer augenscheinlich. Manchmal verstellen sogar eigene Werte, Wünsche oder Vorurteile den Blick auf Talente. Wir haben Ihnen Erkenntnisse aus der Wissenschaft zusammengestellt und Dr. Anne Vohrmann um praxisrelevante Tipps gebeten.
Dr. Anne Vohrmann
Anne Vohrmann ist Bildungswissenschaftlerin und forscht an der Universität Münster zur Begabten- und Begabungsförderung. Besonders wichtig ist ihr das Thema Begabungen erkennen. Ihre Kursteilnehmenden sensibilisiert sie dafür schon mal mit dem Videoclip »Who killed Lord Smythe?«.
Vier Fragen an Anne Vohrmann
Wenn man in Ihren Kursen lernen möchte, woran man begabte Kinder und Jugendliche erkennt, fordern Sie die Teilnehmenden dazu auf, sich erst einmal mit sich selbst zu beschäftigen. Das klingt paradox.
Für mich ist das nicht wirklich paradox. Wenn es darum geht, Begabungen zu erkennen, hat das ganz viel damit zu tun, was ich selbst unter Begabung verstehe. Denn Begabung ist ein Begriff, der ganz vielschichtig besetzt ist. Denken Sie bei Begabung vor allem ans kognitive Potenzial, also zum Beispiel ans besonders gut denken können? Oder denken Sie auch an Menschen, die vielleicht herausragend sozial-emotionale oder kreative Fähigkeiten mit sich bringen? Was ist mit dem Kind, das sich im Sportunterricht immer verantwortungsvoll um den Auf- und Abbau der Geräte kümmert? Können Sie sich ein sehr begabtes Kind vorstellen, das aber schlechte Noten in Klassenarbeiten schreibt? Ihr Verständnis von Begabung beeinflusst also nicht unwesentlich, auf wen Sie den Blick richten.
Begabungen zu erkennen hat also viel mit der eigenen Haltung und Perspektive zu tun. Wäre es nicht einfacher, Begabung mit einem objektiven Test zu messen?
Ja, das wäre toll. Aber es gibt einige Herausforderungen dabei. Tests messen wirklich immer nur Leistung. Platt gesagt: Bei einem IQ-Test wird das Richtig-Anstreichen-Können in einen Intelligenzwert umgewandelt. Was ist aber mit Menschen, die beispielsweise unter Prüfungsangst leiden und unter Stress blockieren? Oder mit Menschen, die aufgrund anderer Schwierigkeiten weniger Leistungen zeigen als sie eigentlich könnten? Hinzu kommt: Intelligenz kann wirklich gut und verlässlich mit Tests erfasst werden. Aber ist Begabung wirklich nur das kognitive Potenzial? Bei einem breiten Begabungsverständnis, das verschiedenste Domänen und Bereiche umfasst, wird es dann auf einmal schwer, was das Erfassen der Begabung durch Tests angeht. Es gibt nämlich in vielen Bereichen keine verlässlichen Tests, weil die Konstrukte so schwer zu messen sind. Was ist zum Beispiel mit sozial-emotionalen Fähigkeiten? Dazu gibt es meines Wissens keinen Test, aber gleichzeitig Menschen, die in diesen Bereichen herausragend begabt sind! Oder auch zur Kreativität: Viele Forscherinnen und Forscher haben versucht Kreativität messbar zu machen. Aber die Fähigkeit zum Umdenken oder Querdenken zu messen? Das ist für mich zumindest an dieser Stelle paradox.
Sie haben angesprochen, dass Begabungen nicht immer offensichtlich sind. Können Sie anhand eines Beispiels aufzeigen, wie eine Lehrkraft dennoch auf das besondere Potenzial aufmerksam werden kann?
Ich denke da zuerst immer an die Schülerinnen und Schüler, die vielleicht durch außergewöhnliche Fragen anecken. Fragen, die über das eigentliche Unterrichtsthema hinausgehen. Fragen, die aufzeigen, wie vernetzt gedacht wird. Fragen, die vielleicht auf den ersten Blick nerven. Das ist meist der Punkt an dem ich – zumindest wenn es die Zeit erlaubt – nachhake und vertiefe.
Was sind typische Fehler, wenn es um das Erkennen von Begabung geht und wie kann man sie vermeiden?
Wir können uns leider alle nicht von Stereotypen und Vorurteilen freimachen. Aber wir können sie zumindest reflektieren. Das passt zu dem, was ich zu Ihrer ersten Frage geantwortet habe. Welches Bild haben Sie von Begabung? Ist ein begabter Schüler ein Junge mit Hornbrille? Denkt man an den Überflieger oder den schüchternen Nerd? Was ist mit dem stillen Mädchen in Ihrer Klasse? Kann sie eine besondere Begabung inne haben und diese vielleicht einfach noch nicht sprachlich zum Ausdruck bringen? Was ist mit der Chaotin, die tolle Ideen für Geschichten hat und deren Geschichten aber gespickt von Rechtschreibfehler sind? Häufig werden besonders kluge Kinder als soziale Problemfälle beurteilt und Kinder, die eine Beeinträchtigung haben, selten in ihren Begabungen herausgefordert. Wenn Sie sich einen Spaß machen wollen, googeln Sie einmal hochbegabtes Kind und gucken sich dann die Treffer der Bildersuche an.
Tipp und Trainingsaufgabe von Anne Vohrmann
Tipp
Was heißt es, intelligent zu sein? Der Münchner Professor Armin Nassehi spricht im »Deutschlandfunk Nova« darüber, wie unser Umfeld beeinflusst wie intelligent wir sind. Der kurzweilige Vortrag betrachtet das Phänomen Intelligenz aus soziologischer Sicht.
Trainingsaufgabe
An wen denken Sie bei einer begabten Person? Notieren Sie, was Ihnen zu der Frage einfällt. Reflektieren Sie anschließend Ihre Kriterien, woran Sie persönlich Begabung festmachen.
Potenziale sehen und anerkennen
Der Marco schafft die Schule nicht!
Im Frühjahr 1992 sitzt in der Schule eine Mutter vor dem Lehrer ihres Sohnes. Es geht darum, auf welche Schule ihr Sohn künftig gehen soll. »Marco sollte auf der Hauptschule bleiben, Frau Maurer. Die Realschule ist nichts für ihn!« Marcos Mutter schluckt, aber sie fügt sich. Sie ist Friseurin, Marcos Vater Kaminkehrer. Vom Bildungssystem verstehen die beiden nicht viel. Jahre später wird Marco Maurer in der ZEIT über diese Geschichte schreiben. Da hat er Hauptschule, Realschule, Abitur und Hochschule hinter sich und arbeitet bereits erfolgreich als Journalist. Sein Artikel wird eine bundesweite Debatte über Aufstiegschancen und Bildungsgerechtigkeit auslösen. Und darüber, was passiert, wenn Fähigkeiten und Talente nicht gesehen werden, weil andere Werte, Wünsche oder Vorurteile den Blick auf Potenziale verstellen.
Tatsächlich sind Vorurteile und Mythen nach wie vor mächtige Stolpersteine, wenn es um das Erkennen von Begabungen geht. Um junge Menschen dabei zu unterstützen, ihre Talente zu entfalten, müssen ihre Potenziale zunächst gesehen und anerkannt werden.
Die Herausforderung, Begabungen zu erkennen, beginnt bei den Begrifflichkeiten: Was verstehen wir unter Begabung? Denken wir an die Abiturientin mit überragendem Abschluss oder an das Talent am Klavier? Was ist mit dem Jugendlichen, der in seiner Heimatstadt Aktionen für Flüchtlingskinder ins Leben ruft? Oder mit den Schülerinnen und Schülern, die wenig Zeit zum Lernen haben, weil sie nach der Schule ihre Geschwister beaufsichtigen müssen und daher weniger gute Leistungen erreichen?
Birgit Behrensen erläutert in dem Sammelband Professionelle pädagogische Haltung, wie sich Lehrkräfte bei der Verteilung ihrer Aufmerksamkeit – häufig unbewusst – von verschiedenen Gerechtigkeitsorientierungen leiten lassen: Manche Lehrkräfte widmen sich besonders den schwächeren Schülerinnen und Schülern. Andere nehmen eher diejenigen in den Fokus, die sich leistungsstark und motiviert zeigen. Der dritte Typus wiederum versucht, seine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf alle Schülerinnen und Schüler zu verteilen. Das individuelle Verständnis von Gerechtigkeit basiert auf biografischen Erfahrungen, die untrennbar mit gesellschaftlichen Dynamiken verwoben sind, beschreibt Behrensen das Dilemma, in dem Lehrkräfte sich bewegen.
Die Beispiele zeigen: Die Wahrnehmung von Begabungen ist subjektiv, abhängig vom persönlichen Blickwinkel und beeinflusst von individuellen Erfahrungen. Hinzu kommt, dass manche Begabungen nicht gleich offensichtlich sind oder im normalen Lernumfeld nicht identifiziert werden können. Vielleicht steckt in dem Mathemuffel ein wahrer Knobelfreak, wenn er nur den richtigen Zugang zu spannenden Aufgaben findet? Ein anderes Kind wird sein musikalisches Talent erst entdecken können, wenn man ihm ein Musikinstrument in die Hand drückt. Daher ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche die Chance haben, sich in ganz unterschiedlichen Kontexten zu erproben. Nicht nur, damit sie sich und ihre Fähigkeiten erforschen können, sondern auch damit die Potenziale gesehen werden, die erst außerhalb des Lernortes Schule zum Tragen kommen.
Eine zusätzliche Herausforderung für das Erkennen von Begabung ist der Umgang mit der Heterogenität in den Klassenzimmern: Fähigkeiten und Interessen von Schülerinnen und Schülern sind so vielfältig wie ihre sozialen und kulturellen Hintergründe. Dem steht das zwangsläufig von der eigenen Kultur geprägte Verständnis von Begabung gegenüber.
Und nicht zuletzt hängt es auch vom Klassennachbarn ab, wie Lehrerinnen und Lehrer die Fähigkeiten eines Kindes einschätzen: Sie tendieren dazu, sich bei der Benotung an der Leistung der Klasse zu orientieren. Im Umfeld vieler leistungsstarker Schülerinnen und Schüler wird ein Kind tendenziell schlechter bewertet als in einer insgesamt leistungsschwächeren Klasse. Stammt dieses Kind zudem aus sozial schwächeren Schichten, verringert sich seine Chance nochmals, beispielsweise eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Dieser sogenannte Referenzgruppeneffekt kann jedoch auch eine andere Auswirkung haben: Der Schüler lässt in seiner Motivation und Anstrengungsbereitschaft so nach, dass seine Potenziale nicht sichtbar werden.
Fazit: Differenzierte, systematische Beobachtungen in schulischen und außerschulischen Situationen sind Grundlage für das Erkennen von Begabungen. Checklisten von qualitätsgesicherten Anbietern können dabei unterstützen, die verschiedenen Facetten von Begabungen wahrzunehmen und einzuschätzen. Dabei gilt es, den eigenen Blickwinkel auf Kinder und Jugendliche und ihre Begabungen fortlaufend zu überprüfen und sich der eigenen Wahrnehmungsmuster und Stereotypen bewusst zu werden. Im Zweifel helfen (schulpsychologische) Beratungsstellen: Hier können Fachleute unter anderem Tests durchführen, die Auswertungsergebnisse analysieren und Handlungsoptionen empfehlen.
Marco Maurer ist ein paar Jahre nach dem Gespräch zwischen seiner Mutter und dem Schullehrer an einer anderen Schule auf eine engagierte Lehrerin getroffen. Die seine Begabung wahrnahm, ihn entsprechend förderte und ermutigte, seinen eingeschlagenen Bildungsweg weiter zu gehen.
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