Auf die Haltung kommt es an!
Alle Schülerinnen und Schüler sollen die Möglichkeit haben, ihre individuellen Potenziale zu entdecken und zu entfalten – unabhängig von Herkunft, Geschlecht und wirtschaftlicher Lage. Das ist die Theorie. In der Praxis sieht dies anders aus: Kinder und Jugendliche mit einer Zuwanderungsgeschichte haben in Deutschland nicht immer die gleichen Chancen, ihre Begabungen zu entfalten wie ihre Peers ohne Migrationshintergrund. Das gilt insbesondere, wenn sie aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stammen – zwei Faktoren die häufig zusammenhängen.
Die Gründe sind vielfältig: Um Kinder und Jugendliche zu unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten, müssen ihre Stärken und Talente zunächst wahrgenommen werden. Es braucht zudem individuell zugeschnittene Förderangebote und ein (familiäres) Umfeld, das den Bildungsweg des Kindes beziehungsweise des oder der Jugendlichen positiv stärkend begleitet.
Was können Lehrende in- und außerhalb von Schule tun, um Jugendliche mit Migrationshintergrund fördernd zu unterstützen? Wir haben Dr. Ulrike Leikhof, Leiterin des Bereichs Akademien bei Bildung & Begabung um Hintergrundwissen und Tipps gebeten.
Dr. Ulrike Leikhof
Hintergrundwissen
Die Herausforderung
Es ist für Lehrkräfte nicht einfach, die gesamte Persönlichkeit junger Menschen zu erfassen, offen zu sein für ihre Stärken und Fähigkeiten und darauf basierend passende pädagogische Angebote zu entwickeln. Aus verschiedenen Gründen gelingt dies nicht immer, etwa wenn Begabungen nicht sofort erkennbar sind. Hinzu kommt, dass Wahrnehmungen stets subjektiv sind, beeinflusst vom persönlichen Blickwinkel, von eigenen Werten und Erfahrungen. Darüber hinaus müssen die Beobachtungen richtig interpretiert und daraus individuell passende Handlungsschritte abgeleitet werden.
Eine weitere Herausforderung stellt die Heterogenität in den Klassenzimmern dar: Die Begabungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler sind ebenso vielfältig wie ihre sozialen und kulturellen Hintergründe.
Wenn Talent nicht gesehen wird: der Herkunftseffekt
Talente und Interessen können durch Herkunftseffekte »maskiert« sein. Das bedeutet, dass die Potenziale von jungen Menschen mit Migrationshintergrund weder von ihnen selbst noch von ihrem Umfeld erkannt werden. Hinzu kommt, dass der Alltag dieser Jugendlichen von Herausforderungen geprägt sein kann, die die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Talenten in den Hintergrund drängen. Sie interpretieren ihre Schwierigkeiten möglicherweise als persönliches Versagen, ohne zu erkennen, dass viele Benachteiligungen tatsächlich strukturell und gesellschaftlich bedingt sind.
Jugendliche sind nicht alle gleich
Rund jeder dritte Jugendliche in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, wobei sich Unterschiede im Bildungserfolg verschiedener Herkunftsgruppen feststellen lassen. Ein Beispiel: Jugendliche mit vietnamesischen Wurzeln erreichen deutlich häufiger das Gymnasium als türkeistämmige Jugendliche. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen beeinflusst der sogenannte »sozioökonomische Status« in hohem Maße den Bildungserfolg. Hierzu zählen Faktoren wie die Qualifikation und Erwerbstätigkeit der Eltern sowie das finanzielle Einkommen in der Familie. Zum anderen beeinflussen auch kulturell geprägte Werte in den Familien sowie geschlechterspezifische Bildungsvorstellungen den Bildungsweg. So ist beispielsweise das Growth Mindset, also die Überzeugung, ob sich die eigenen Fähigkeiten und Stärken durch Anstrengung, Fleiß und Offenheit für neue Herausforderungen weiterentwickeln lassen, unterschiedlich ausgeprägt in den verschiedenen Zuwanderungsgruppen.
Das Verständnis von Begabung und damit auch die Auffassung davon, welche Talente »förderungswert« sind, ist ebenfalls kulturell unterschiedlich geprägt und kann sich von der in Deutschland vorherrschenden Meinung unterscheiden. Sich gegen die Erwartungen, Wünsche und Werte der Familie durchzusetzen, kann für die Jugendlichen dann zu einer großen Herausforderung werden. Häufig fehlt es ihnen zusätzlich an sozialen Ressourcen wie Netzwerken, Vorbildern oder Informationen über das Bildungssystem, die für eine erfolgreiche Bildungsbiografie hilfreich sind.
Die Jugendlichen sehen sich zudem mit Stereotypen konfrontiert: Kinder und Jugendliche, von denen aufgrund ihrer Herkunft beispielsweise weniger Leistung erwartet wird, leisten tatsächlich weniger, als sie könnten. Ganz konkret: Von türkeistämmigen Jugendlichen erwarten Lehrkräfte oft weniger Leistung, die Schülerinnen und Schüler spüren das, weil die Lehrkraft seltener mit ihnen interagiert. Sie verinnerlichen dieses Stereotyp und rufen nicht ihr volles Potenzial ab.
Praxistipp: Sich Hürden bewusst machen
Hürden für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund
- ungeklärter oder nicht dauerhafter Aufenthaltsstatus
- nicht-deutsche Familiensprache
- Leben in Stadtteilen mit schlechter Infrastruktur, geringerer kultureller Durchmischung und schlechter ausgestatteten Schulen
- andere Erwartungen an die Rolle der Lehrkräfte
- mangelndes Wissen über schulische Anforderungen
- Erfahrungen mit Rassismus und Stereotypisierungen
Hürden für sozioökonomisch benachteiligte Schülerinnen und Schüler
- Lernziele sind schwerer erreichbar: Wenn die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse (körperliche Bedürfnisse, Sicherheit, Zugehörigkeit usw.) eine tägliche Herausforderung ist, können »höhere« Ziele wie Begabungsentfaltung oder Selbstverwirklichung gar nicht in den Blick geraten und angestrebt werden.
- Im Elternhaus werden langfristige Planungen und Strategien selten vermittelt; der Fokus liegt auf kurzfristigen Zielen mit direktem Erfolg.
- Bildung kostet.
- Angebote sind nicht dort, wo sich diese Jugendlichen aufhalten.
- Selbststigmatisierung: »Ich bin doch eh Hauptschule!«
Reflexionsaufgabe: Welche Hürden kann ich beeinflussen?
Überlegen Sie sich, welche Hürden es gegebenenfalls an Ihrer Schule beziehungsweise Ihrem außerschulischem Lernangebot geben könnte. Auf welche Hürden haben Sie Einfluss?
- Seien Sie ehrlich mit sich selbst: Welche – auch unbewussten – Erwartungen haben Sie an die Leistungsfähigkeit bestimmter Kulturen oder Milieus? Häufig wird von bestimmten Jugendlichen von vorneherein weniger erwartet. Machen Sie sich bewusst, dass wenn Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, einer stereotypisierten sozialen Gruppe anzugehören, sie dann oft auch schlechtere Leistungen erbringen.
- Knüpfen Ihre Angebote an die Lebensrealität der Jugendlichen an? »Elitär« wirkende Formate schrecken ab.
- Was wissen Sie über Diagnostik und Förderung bei unterschiedlichen kulturellen Hintergründen?
Praxistipps für eine chancengerechtere Förderung
Ein vorurteilsbewusster Umgang mit den vielfältigen Potenzialen der Jugendlichen sowie die Stärkung ihrer Selbstkompetenz sind zentrale Schlüssel, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Talente zu entfalten. Das können Sie tun:
Zugänge schaffen/Hürden abbauen
- Ermöglichen Sie Angebote im direkten Umfeld der Jugendlichen, zum Beispiel direkt an der Schule. Kooperieren Sie hierzu gegebenenfalls mit außerschulischen Anbietern.
- Gehen Sie auf die Jugendlichen zu (»aufsuchende Arbeit« statt »Komm-Strukturen«).
- Kommunizieren Sie zielgruppengerecht.
- Verdeutlichen Sie die Relevanz für das eigene Leben.
- Setzen Sie auf persönliche Kontakte.
Nachteile ausgleichen
- Zeigen Sie Vorbilder auf, vermitteln Sie Mentorinnen und Mentoren und schaffen Sie Netzwerke.
- Nutzen Sie »Hürden« als Ressourcen – zum Beispiel Mehrsprachigkeit.
- Üben Sie mit den Jugendlichen den Umgang mit Gestaltungsmöglichkeiten ein.
- Thematisieren Sie, dass Benachteiligungen systemisch sind und kein individuelles Versagen. Zum Beispiel: »Es ist normal, dass du mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen hast«.
- Wenden Sie Selbstbestätigungsinterventionen an. Mehr dazu.
- Sprechen Sie mit den Jugendlichen über Identitätsfragen, denn: Wer sich als zugehörig/deutsch identifiziert oder seinen beiden Kulturen zugehörig, schneidet in Leistungsstudien besser ab (als zum Beispiel jemand, der sich selbst als »türkisch, Muslim, Ausländer« ansieht).
- Selbstkompetenz ist das Schlüsselthema – sie kann nicht vorausgesetzt, sondern muss geübt werden.
Methoden zur Selbstkompetenz
Selbstkompetenzen zum Üben
Selbstkompetenz ist ein zentrales Persönlichkeitsmerkmal für die Talententwicklung und begünstigt die individuelle Entfaltung. Mit diesen Übungen aus dem Methodenkoffer von Bildung & Begabung können Sie Ihre Schülerinnen und Schüler unterstützen, ihre persönlichen Stärken und Interessen zu entdecken und zu entfalten. Besonders empfehle ich die Methoden »Nachgefragt«, »Erkunde dich selbst!«, »Mein Leben und ich« und »Visualisierte Gruppentalente«.
Erkunde dich selbst!
Info & MaterialienMein Leben und ich
Info & MaterialienUnsere Superkräfte
Info & MaterialienEin echter Superheld – eine echte Superheldin
Info & MaterialienVisualisierte Gruppentalente
Info & MaterialienSuperumhang
Info & MaterialienRückenstärken
Info & MaterialienZwei Seiten der Medaille. Starke Schwächen
Info & MaterialienZeig's uns!
Info & MaterialienZum Weiterlesen
Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung/ Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Vielfalt im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte gute Leistung fördern können. Zur Webseite mit Handbuch und weiteren Materialien zum Download.
Bohl, Thorsten; Budde, Jürgen; Rieger-Ladich, Markus: Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht: Grundlagentheoretische Beiträge und didaktische Reflexionen. utb, 2023.
El-Mafaalani, Aladin: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer & Wisch, 2020.
Fromm, Martin: Diversität in der Schule: Herausforderung für Erziehung und Bildung in der Sekundarstufe. utb, 2019.
Georgi, Viola B.; Karakaşoğlu, Yasemin: Allgemeinbildende Schulen in der Migrationsgesellschaft. Diversitätssensible Ansätze und Perspektiven. Kohlhammer, 2023.
Sachverständigenrat für Integration und Migration: Weise Interventionen für einen diversitätsbewussten Unterricht. Ein Handbuch für die Lehrerbildung. Zur Webseite mit Handbuch und weiteren Materialien zum Download.
Weitere Angebote im Hybriden Lernraum
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