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Mehrsprachigkeit: Hindernis oder Ressource

Im Gespräch mit Prof. Dr. Ingrid Gogolin

Sprachenvielfalt

Immer mehr Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland mehrsprachig auf – das heißt, sie nutzen im Alltag neben dem Deutschen mindestens eine weitere Sprache. Statistisch gesehen sind zum Zeitpunkt der Einschulung mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler mehrsprachig. Einige Eltern und Lehrkräfte befürchten jedoch, dass sich Mehrsprachigkeit negativ auf die schulische Leistung auswirken könnte. Wir haben mit Prof. Dr. Ingrid Gogolin über die Herausforderungen und Potenziale von Mehrsprachigkeit gesprochen.

Abbildung von Frau Prof. Dr. Ingrid Gogolin vor einem Bücherregal.
Prof. Dr. Ingrid Gogolin
© Scholzfoto

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ingrid Gogolin

Ingrid Gogolin ist Professorin für Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg mit Forschungsschwerpunkt »Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit«. Aktuell leitet Professorin Gogolin unter anderem das Forschungsprojekt »Physikunterricht im Kontext sprachlicher Diversität«.

SekGogolin@uni-hamburg.de Zur Person

Ich würde mich freuen, wenn wir über sprachliche und kulturelle Vielfalt im Lande und ihre Konsequenzen für Erziehung und Bildung entspannt, unideologisch und mit Rücksicht auf forschungsgestützte Erkenntnisse sprechen könnten.

Prof. Dr. Ingrid Gogolin

Im Gespräch mit Prof. Dr. Ingrid Gogolin

Frau Gogolin, wie ordnen Sie die Befürchtungen von Lehrkräften und Eltern ein, dass sich Mehrsprachigkeit negativ auf Schulleistung auswirken könnte?

In der Tat sind viele Eltern besorgt über die Bildungschancen ihrer Kinder, wenn sie mehrsprachig leben. Sie befürchten, dass Mehrsprachigkeit nicht nur der sprachlichen Entwicklung schadet, sondern auch das Lernen insgesamt beeinträchtigt. Die Ergebnisse der Forschung über Mehrsprachigkeit bestätigen diese Befürchtungen jedoch nicht. Im schlimmsten Fall führt Mehrsprachigkeit nicht zu einem Vorsprung für das Lernen der Mehrheitssprache – also bei uns: für die deutsche Sprache. Es ist zwar auch ein Mythos, dass mehrsprachige Menschen den einsprachigen grundsätzlich überlegen sind, etwa in ihrer Intelligenz. Tatsächlich ist das Leben in zwei oder mehr Sprachen mit Vorteilen verbunden – aber auch mit Schwierigkeiten. Zu den Vorteilen gehört zum Beispiel, dass sich das Wissen über Sprache bei mehrsprachigen Kindern früher einstellt als bei einsprachigen. Sie können zum Beispiel früher als einsprachige Kinder zwischen der Form und dem Inhalt von Wörtern unterscheiden. Das ist eine tolle Voraussetzung für das Lernen überhaupt, denn Unterschiede machen zu können ist eine der wichtigsten grundsätzlichen Voraussetzungen für Lernerfolg. Zu den Schwierigkeiten gehört, dass diese Fähigkeit systematisch von der Schule aufgegriffen und weiterentwickelt werden muss, damit sie auf Dauer erhalten bleibt und für das Lernen genutzt werden kann. Darauf aber ist unser Schulsystem nicht sehr gut eingestellt, denn da wird die Mehrsprachigkeit, die Kinder aus ihrer Lebenswelt mitbringen, eher als Belastung gesehen und nicht als Chance genutzt.

Über welche Schülerinnen und Schüler sprechen wir bei der Sorge, Mehrsprachigkeit könnte sich negativ auf schulische Leistung auswirken?

In der Tat sind nach wissenschaftlicher Auffassung die meisten Menschen in der einen oder anderen Form mehrsprachig, zum Beispiel, weil wir Fremdsprachen lernen. Eine besonders große Gruppe der Mehrsprachigen hierzulande sind die Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, in deren Familien nicht selten mehr als eine andere Sprache neben Deutsch eine Rolle spielt. Auf die Voraussetzungen, die diese Kinder und Jugendlichen für das weitere Lernen mitbringen, müsste der Unterricht ganz besonders eingehen, damit mögliche Vorteile nicht in Nachteile umschlagen. Die soziale Lage, vor allem aber die Bildungsnähe der Familie, spielt ganz unabhängig von der sprachlichen Herkunft der Lernenden eine große Rolle für ihre Bildungschancen.

Können Sie das näher erläutern?

Wenn es darum geht, was man mit Sprachen sagen kann, sind alle Sprachen einander gleichwertig – man drückt sich zwar unterschiedlich aus, aber es gibt nichts, was man in irgendeiner Sprache der Welt nicht ausdrücken könnte. Anders verhält es sich mit der gesellschaftlichen Bewertung von Sprachen. Man findet die eine Sprache »schöner« als die andere, die eine klingt angenehmer als die andere. Die Forschung zeigt, dass die Wertschätzung von Sprachen gar nicht so sehr von den Sprachen selbst abhängt, sondern vielmehr davon, wie ihre Sprecherinnen und Sprecher eingeschätzt werden. Einer Person von hohem Ansehen – sagen wir einer berühmten Künstlerin – »verzeiht« man einen Akzent oder einen Grammatikverstoß. Manchmal findet man »falsches Sprechen« sogar sympathisch, reizend, niedlich. Personen mit geringem Ansehen aber verzeiht man nicht. Hier werden sprachliche Verstöße eher als Zeichen für Unzulänglichkeit und Gefährdung genommen. Untersuchungen zeigen, dass das auch dann der Fall ist, wenn es sich um dieselben Verstöße handelt – oder um dieselben Personen, über die man im Experiment den Zuhörenden unterschiedliche Informationen über die Herkunft gegeben hat.

Man sieht also: Mehrsprachigkeit ist ein überaus kompliziertes Thema, und bei der Einschätzung ihrer Folgen für Bildung haben wir es vielfach damit zu tun, dass viele Vorstellungen und Erwartungen über »sprachliche Normalität« auf die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht passen.

Warum tut sich Deutschland so schwer mit dem Thema Mehrsprachigkeit?

In Ländern wie Deutschland gehört die Vorstellung zu den Traditionen, dass ein Land »normalerweise« einsprachig ist, dass also alle Menschen im Land dieselbe Sprache sprechen. In Wirklichkeit ist das fast nie Fall. In den meisten Ländern der Welt waren immer schon verschiedene Sprachen in der Bevölkerung lebendig – eine Handvoll in Ländern wie Deutschland oder mehrere hundert in Ländern wie Indien. Durch die Sprachen der Migrantinnen und Migranten werden heutzutage auch in Deutschland alltäglich mehrere hundert Sprachen benutzt. Mehrsprachigkeit ist damit für uns alle sichtbarer und hörbarer geworden – und das bringt durchaus auch Verunsicherung mit sich. Aber wichtig zu wissen ist, dass Mehrsprachigkeit an sich nicht gefährlich für Entwicklung und Lernen ist, sondern eine gute Grundlage, die genutzt werden kann und sollte.

Tipps von Prof. Dr. Ingrid Gogolin

Buch

Eine Einführung in das Thema des Sprachenlernens, in der auch die Rolle von Mehrsprachigkeit anschaulich dargestellt wird, bietet das Buch von Rosemarie Tracy: »Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. Francke Verlag, Tübingen 20082

Zeitschriftenbeitrag

Ein Beitrag zu strittigen Themen im Bereich des Lehrens und Lernens im Kontext von Mehrsprachigkeit: »Gogolin, Ingrid; Krüger-Potratz, Marianne: Sprachenvielfalt – Fakten und Kontroversen. In: Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich, Heft 6/2012, S. 7-19.«

Website zur Mehrsprachigkeit

Auf dieser Website der Universität Hamburg werden Forschungsergebnisse und praxisrelevante Informationen zum Thema »Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit« vorgestellt, gesondert aufbereitet für die Zielgruppen »Wissenschaft« und »Öffentlichkeit«.

Was bedeutet Mehrsprachigkeit?

Aus wissenschaftlicher Sicht sind die meisten Menschen in der einen oder anderen Form mehrsprachig. Wir sind zum Beispiel mehr oder weniger gut vertraut mit unterschiedlichen Arten zu sprechen – je nach der Situation, in der wir gerade sind. Im persönlichen, alltäglichen Gespräch mit Freundinnen und Freunden verwendet man eine andere Sprechweise als im Vorstellungsgespräch mit einem Arbeitgeber oder in der Unterhaltung mit einer Polizistin, die uns gerade das Strafmandat für falsches Parken verpasst. Andere Beispiele sind Dialekte: Hier unterscheiden sich Laute und Sprachmelodien, aber auch der Wortschatz und die Ordnung von Wörtern in Sätzen. Diese unterschiedlichen Varianten von Sprache bilden eine Form von Mehrsprachigkeit innerhalb einer Sprache, die uns allen aus unserem sprachlichen Alltag vertraut ist. Kinder erfahren diese Formen von Sprache in ihrer Entwicklung, und in der Schule geht es unter anderem darum, dass sie lernen, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort die passende Form zu wählen und zu verstehen – etwa, indem sie unterscheiden können, dass das Wort »gleich« in einer mathematischen Textaufgabe etwas anderes zum Ausdruck bringt als in einer religiösen Abhandlung.

Darüber hinaus aber geht es um Mehrsprachigkeit über unterschiedliche Sprachen hinweg. Mehrsprachigkeit ist ein Bildungsziel für alle Kinder in Deutschland: Schon in der Grundschule erhalten sie Unterricht in einer Fremdsprache, meist ist das Englisch. Etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen hat in der Sekundarstufe auch Zugang zu einer zweiten Fremdsprache.

Außerdem gibt es die Gruppe der Heranwachsenden, die in zwei oder mehr Sprachen alltäglich leben. Dies schließt übrigens Dialekte ein – zum Beispiel Schwyzerdütsch. Eine besonders große Gruppe bilden die Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, in deren Familien nicht selten mehr als eine andere Sprache neben Deutsch eine Rolle spielt. Diese Form der Mehrsprachigkeit hat besonders starken Einfluss auf die sprachliche Entwicklung. Sie hinterlässt tiefe Spuren in den Spracherfahrungen – bis hinein in das Sprachgefühl. Diese Mehrsprachigen sind oft für ihre Umwelt leicht erkennbar, beispielsweise durch einen Akzent beim Sprechen. Mehrsprachigkeit ist also der »Normalfall«, aber die Formen, in denen sie beim einzelnen Kind oder Jugendlichen auftritt, unterscheiden sich. Diese Unterschiede fordern besondere Beachtung beim Lehren und Lernen heraus.

Prof. Dr. Ingrid Gogolin

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