Ihre Frage
In meinem Mathematikunterricht (Gymnasium, Sek. I) ist die Bandbreite an Begabungen groß. Den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern würde ich künftig gerne mehr Differenzierungsangebote machen. Worauf kommt es bei der Umsetzung an und haben Sie Anregungen für gute Praxisbeispiele, die ich ohne zu großen zeitlichen Aufwand umsetzen kann?
Antwort von Prof. Dr. Jürg Kramer
Differenzierungsangebote eignen sich sehr gut, um leistungsstarke Schülerinnen und Schüler im Mathe-Unterricht zu fördern. Bei der Umsetzung ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler in Gruppen auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus am selben Gegenstand arbeiten und sich nach Phasen individueller Arbeit wieder zusammenfinden und austauschen. Innerhalb der Gruppe werden die Schülerinnen und Schüler also auf ihrem Niveau gefördert. Gleichzeitig werden Kompetenzen wie Kooperation und Kommunikation sowie der gemeinsame fachliche Austausch in der Klasse unterstützt.
In der Praxis des Mathe-Unterrichts sieht es zum Beispiel so aus: In den Klassen 9/10 könnten als Anknüpfungspunkt für ein Differenzierungsangebot die Zahlbereiche genommen werden, die bis zu diesem Zeitpunkt bis hin zu den reellen Zahlen entwickelt wurden. Bruchzahlen und deren Entwicklung in abbrechende oder periodische Dezimalbrüche können vorausgesetzt werden, des Weiteren sind den Schülerinnen und Schülern auch die irrationalen Zahlen bekannt, insbesondere deren Darstellung als unendliche nicht-periodische Dezimalbruchentwicklungen. Es würde sich ein Differenzierungsangebot eignen, das die Untersuchung der Folge der Fibonacci-Zahlen 1, 1, 2, 3, 5 … zum Ausgangspunkt nimmt.
In einer ersten Arbeitsphase untersucht eine Gruppe die Fibonacci-Folge händisch, eine andere mit dem Computer und eine dritte Gruppe versucht mit Hilfe der Rekursionsformel eine explizite Formel für die Fibonacci-Zahlen herzuleiten. Nach einem Austausch zu den in den Gruppen erzielten ersten Ergebnissen, sind die Schülerinnen und Schüler zur »goldenen Zahl« ω = (1 + √5) / 2 = 1,618… geführt, die als Ausgangspunkt für die zweite Arbeitsphase genommen wird.
Die zweite Arbeitsphase verfolgt dann einen geometrischen Ansatz. Eine Gruppe untersucht die Konstruktion des goldenen Schnitts mit Hilfe von Zirkel und Lineal, eine zweite untersucht den Zusammenhang zwischen dem goldenen Schnitt und der Konstruktion des regelmäßigen Fünfecks und eine dritte Gruppe wagt den Blick ins Dreidimensionale und inspiziert die Platonischen Körper mit einem besonderen Blick auf das Ikosaeder, das aus regelmäßigen Fünfecken zusammengesetzt ist.
In einer weiteren, dritten Arbeitsphase könnte nun ein eher arithmetischer Ansatz in den Fokus genommen werden, der durch die Güte der Approximation irrationaler Zahlen durch abbrechende Dezimalbrüche motiviert ist. Eine erste Gruppe könnte sich dabei die Genauigkeit der Approximation der Zahl ω durch abbrechende Dezimalzahlen ansehen, in Abhängigkeit der Anzahl der Nachkommastellen. Die zweite Gruppe könnte sich mit der Kettenbruchentwicklung reeller Zahlen und deren Approximationsvorzügen beschäftigen. Die dritte Gruppe könnte sich schließlich mit der Frage des Abbrechens bzw. der Periodizität von Kettenbrüchen auseinandersetzen, motiviert durch die Tatsache, dass ω einen periodischen Kettenbruch mit lauter Einsen hat.
Tipps zum Differenzieren im Mathematikunterricht
Grundschule
Buchtipp: Krauthausen, Günter; Scherer, Petra: Umgang mit Heterogenität. Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht der Grundschule. Kiel, 2010. Publikation des Programms »SINUS an Grundschulen« des IPN. Zum Download.
Auszug: »Heterogenität und in der Folge die Notwendigkeit von Differenzierung oder Individualisierung des Lernens sind zu einem ‚prioritären Thema‘ des Unterrichts geworden – nicht nur in Mathematik und nicht nur in der Grundschule. Die vorliegende Handreichung konzentriert sich auf Formen innerer Differenzierung. Versteht man die Heterogenität der Lerngruppen nicht als eine ‚Not‘, sondern akzeptiert sie als Normalität, dann lassen sich Vielfalt und Verschiedenheit nicht als Hindernis, sondern als Vorteil für gemeinsames Lernen verstehen und nutzen. Was es bedeutet, am gleichen Gegenstand zu arbeiten, nimmt die Handreichung näher in den Blick und trägt damit zum konstruktiven und sachgerechten Umgang mit Heterogenität bei.«
Sekundarstufe
Buchtipp: Leuders, Timo; Prediger, Susanne: Flexibel differenzieren und fokussiert fördern im Mathematikunterricht. Scriptor Praxis, Berlin, 20162, Cornelsen-Verlag.
Auszug: »Der Vielfalt und Heterogenität der Lernenden im Mathematikunterricht kann man nur gerecht werden mit geeigneten Unterrichtsformen und fachspezifischen flexiblen Strategien zur Differenzierung und Förderung. Das Buch knüpft an den aktuellen Forschungsstand an und stellt viele Varianten des Differenzierens sowie konkrete Beispiele und Materialien für eine fokussierte Förderung vor.«
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Praxisorientiertes Wissen bei schulischen und außerschulischen Bildungspraktikerinnen und Bildungspraktikern zum Thema Individuelle Förderung unterstützt dabei, dass mehr Jugendliche die Chance erhalten, ihre Potenziale zu entwickeln. Ihre persönlichen Fragen zur Talententwicklung und Talentförderung lassen wir daher von Expertinnen und Experten beantworten und stellen sie hier in regelmäßiger Folge vor. Die heutige Frage wurde von Prof. Dr. Jürg Kramer beantwortet.
Prof. Dr. Jürg Kramer
Jürg Kramer ist Mathematiker an der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben seiner fachwissenschaftlichen Forschung zur Arakelov Geometrie und der Theorie der Modulformen, ist Prof. Kramer die Mathematik-Lehrkräfteausbildung und die Förderung mathematisch begabter Jugendlicher ein großes Anliegen. Außerdem schreibt er Aufsätze für eine breitere Öffentlichkeit, um fundamentale mathematische Forschungserkenntnisse verständlich zu machen.
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