Zu Claudia Stuhrmann
Ministerialrätin Claudia Stuhrmann ist Leiterin des für die Begabungsförderung zuständigen Referats Allgemein bildende Gymnasien, Institute zur Erlangung der Hochschulreife im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Stuttgart.
Frau Stuhrmann, die Begabungsförderung von Kindern und Jugendlichen kann in Baden-Württemberg auf eine lange Tradition zurückblicken. Auf welchem Selbstverständnis beruht sie?
Unser Bildungssystem in Baden-Württemberg zeichnet sich durch Chancenvielfalt und Durchlässigkeit aus. So verschieden wie unsere Schülerinnen und Schüler mit ihren Begabungen, Fähigkeiten und Interessen sind, so vielfältig ist das Bildungsangebot, das die auf der Grundschule aufbauenden Schularten ihnen bieten. Eine differenzierte Schullandschaft bildet das Fundament für Leistung und Qualität, die wir für unsere Kinder und für die Zukunft unseres Landes brauchen. Dazu gehört selbstverständlich die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler, auch der besonders begabten und hochbegabten. Es ist unser Ziel, allen Kindern in unserem Schulsystem ein Bildungsangebot zu ermöglichen, das ihren individuellen Bedürfnissen und Begabungen entspricht.
Baden-Württemberg hat seit den 1980er Jahren Angebote zur Begabten- und Hochbegabtenförderung konsequent auf- und ausgebaut – beginnend mit den Begabten-AGs, dann mit Kinder- und Jugendakademien, dem Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd und den Hochbegabtenklassen an ausgewählten Gymnasien. All diese Maßnahmen bieten begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen durch Akzeleration, also der beschleunigten Behandlung des Unterrichtsstoffs, und durch Enrichment, das heißt mit zusätzlichen Angeboten, die über den regulären Unterricht hinausgehen, eine besondere, zu ihren Begabungen passende Förderung.
Baden-Württemberg verfügt über einen »Orientierungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen«. Das heißt, die Begabungsförderung setzt bereits frühzeitig in vorschulischen Einrichtungen an?
Bereits im frühkindlichen Bereich ist es das Ziel, dass besonders begabte und hochbegabte Kinder mit ihrem besonderen Unterstützungsbedarf wahrgenommen werden und in ihrer Entwicklung individuelle Unterstützung erhalten. Gezielte Beobachtung und Dokumentation der kindlichen Entwicklung sind deshalb im Orientierungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen verankert. Die pädagogische Fachkraft in den vorschulischen Einrichtungen ist aufgefordert, die vorgefundene Vielfalt anzuerkennen. Individuelle Wesensmerkmale wie zum Beispiel besondere Begabungen beeinflussen die Art und Weise, wie Kinder Zugänge zu Bildung entwickeln. Damit die kontinuierliche Bildungsbiografie des Kindes tragfähig wird, ist die Weiterführung in der Schule ein strukturimmanentes Element des Orientierungsplans. Lehrkräfte haben den Auftrag, an den Voraussetzungen und Lernständen der Kinder anzuknüpfen.
Der Anspruch, alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Talenten, Begabungen und Neigungen umfassend und individuell zu fördern, braucht eine differenzierte schulische Begabungsförderung. Stichwort Hector Kinderakademien und Hochbegabtenzüge: Wie sieht die schulische Förderung in Baden-Württemberg aus?
Ein differenziertes Unterstützungssystem und flexible Rahmenbedingungen für individuelle Förder- und Differenzierungsmaßnahmen ermöglichen eine begabungsgerechte Förderung in der vierjährigen Grundschule. Den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen besonders begabter und leistungsstarker Schülerinnen und Schüler werden wir, wie bereits dargestellt, mit schulischen Fördermaßnahmen der Akzeleration und des Enrichments gerecht. Ein besonderes Enrichment-Angebot stellen dabei die 68 Hector Kinderakademien dar. Die Hector Stiftung II und das Land Baden-Württemberg haben im Oktober 2010 die flächendeckende Einrichtung von Hector Kinderakademien vereinbart. Diese Hector Kinderakademien bieten besonders begabten und hochbegabten Grundschulkindern zusätzlich zum regulären Schulunterricht ein für sie entwickeltes Förderprogramm an. Dieses Förderprogramm ist das einzige landesweite Förderprogramm für besonders begabte und hochbegabte Grundschulkinder in Deutschland, das kontinuierlich vom Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen und vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) in Frankfurt wissenschaftlich begleitet wird. Die wissenschaftlichen Studien zeigen, dass Kinder, die am Kursangebot von Hector Kinderakademien teilgenommen haben, ihre schulischen Leistungen nochmals verbessern konnten. Darüber hinaus konnte für die sogenannten Hector Core Courses – Kurse, die speziell für die Zielgruppe der besonders begabten Kinder entwickelt wurden – eine spezifische Förderwirkung nachgewiesen werden.
Das Ziel, allen Schülerinnen und Schülern ein ihrer Begabung entsprechendes Bildungsangebot zu machen, gilt aber selbstverständlich auch für hochbegabte Kinder und Jugendliche. Daher gibt es – in Ergänzung zum Angebot am Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd – an landesweit 15 Gymnasien, die sich durch hohe schulische Qualitätsstandards auszeichnen, Hochbegabtenzüge. Die Standorte erfassen die geographischen Räume des Landes, sodass für fast jedes hochbegabte Kind in zumutbarer Entfernung ein seiner Begabung entsprechendes Angebot erreichbar ist. Das Angebot der Hochbegabtenklassen wendet sich an hochbegabte Kinder und Jugendliche. Das Aufnahmeverfahren ist zweistufig: An eine Prüfung des Intelligenz-Quotienten (IQ) und des intellektuellen Profils an einer schulpsychologischen Beratungsstelle schließen sich für diejenigen Kinder, die den vorgegebenen IQ-Bereich erreicht haben, Auswahlgespräche an der Schule an. Die Entscheidung über die Aufnahme trifft die Schulleitung. Unsere Gymnasien mit Hochbegabtenzügen sind Vorreiter und daher auch Pilotschulen in besonderen Projekten im Rahmen der Exzellenzförderung in Baden-Württemberg: Die Gymnasien in Heilbronn, Lahr, Lörrach, Marbach a. N, Pforzheim, Ravensburg, Rottweil nehmen seit dem 1. Februar 2018 an der Umsetzung der Gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler teil. Die Gymnasien mit Hochbegabtenzug in den Universitätsstädten Heidelberg, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, Stuttgart, Tübingen und Ulm sind ab dem Schuljahr 2018/2019 Pilotschulen in einem gemeinsam vom Kultusministerium und dem Wissenschaftsministerium entwickelten Konzept zur Verbesserung des Übergangs vom Gymnasium auf die Hochschule. Die Teilnahme der Gymnasien mit Hochbegabtenzügen an diesen beiden Projekten dokumentiert ihre hervorgehobene Rolle bei der Weiterentwicklung der Exzellenzförderung in Baden-Württemberg.
Alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Talenten umfassend und individuell fördern zu wollen schließt auch die Förderung von sportlich, sprachlich oder musikalisch besonders begabten Schülerinnen und Schülern ein?
Für Schülerinnen und Schüler, die musikalische Hochleistungen erbringen, wurde zum Schuljahr 2013/2014 am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart und am Helmholtz-Gymnasium Karlsruhe ein Musikgymnasium eingerichtet. Beide Gymnasien kooperieren mit der jeweiligen Musikhochschule und der Musikschule vor Ort. Zum Schuljahr 2015/2016 kam das Gymnasium Trossingen in Kooperation mit der Musikhochschule Trossingen als dritter Standort hinzu. Während in Stuttgart für das Musikgymnasium zusätzlich zum bestehenden Musikprofil am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium aufgrund des städtischen Bedarfs ein dritter Zug eingerichtet wurde, sind in Karlsruhe und Trossingen die Schülerinnen und Schüler des Musikgymnasiums in bestehende Musikprofilklassen integriert. Im Schuljahr 2022/2023 kamen dann noch das Friedrich-Gymnasium in Freiburg und im Schuljahr 2023/2024 das Moll-Gymnasium in Mannheim hinzu. Insgesamt gibt es fünf Musikgymnasien in Baden-Württemberg.
Das Besondere am Musikgymnasium ist die enge Verzahnung von schulischem Unterricht und musikalischer Exzellenzförderung – die schulische und die musikalisch-künstlerische Ausbildung junger Musikerinnen und Musiker sollen in herausragender Weise vereinbar sein. Fachunterricht, der aufgrund von Wettbewerbsteilnahmen oder Probephasen von Auswahlensembles auf Landes- oder Bundesebene versäumt wurde, wird durch Nachführunterricht ausgeglichen. Voraussetzung für die Aufnahme ans Musikgymnasium ist das Bestehen einer Aufnahmeprüfung, die eine Prüfung im instrumentalen bzw. vokalen Hauptfach sowie eine Prüfung in Musiktheorie und Hörerziehung umfasst.
Sportlich hochtalentierte Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, an den rund 50 Eliteschulen des Sports, Partnerschulen der Olympiastützpunkte sowie Eliteschulen des Fußballs sportliche und schulische Topleistungen zu erzielen. Im Schuljahr 2018/2019 besuchten über 700 Athletinnen oder Athleten mit Bundeskader- oder Landeskaderstatus diese Schulen. Das Land stellt hierfür rund 22 zusätzliche Lehrerdeputate für die pädagogische Betreuung dieser besonders talentierten Schülerinnen und Schüler zur Verfügung. Ausgerichtet an den Erfordernissen des Nachwuchsleistungssports ermöglichen vielfältige Maßnahmen wie Nachführunterricht in Kleingruppen, Verlegung von Klassenarbeiten aufgrund von Trainings- oder Wettkampfmaßnahmen bis hin zu Modellen der Schulzeitstreckung in der Sekundarstufe I und II eine Vereinbarkeit von Schule und Nachwuchsleitungssport. Tabea Alt (Gerätturnen), Carina Vogt (Skispringen), Simon Schempp (Biathlon), Joshua Kimmich und Timo Werner (Fußball) stehen stellvertretend für das Erfolgsmodell zur Vereinbarkeit von Schule und Leistungssport in Baden-Württemberg.
Für besondere Begabungen im sprachlichen Bereich gibt es an den allgemein bildenden Gymnasien und an den Realschulen bilinguale Züge. An 97 Gymnasien bestehen voll ausgebaute deutsch-englische Abteilungen, an 18 Gymnasien bilinguale Abteilungen deutsch-französisch und an einem Gymnasium eine deutsch-italienische Abteilung.
Und wie sieht die Förderung außerhalb der Schule aus? Welche Förderangebote und außerschulischen Lernorte sind für Baden-Württemberg charakteristisch?
Derzeit sind vom Kultusministerium mehr als 20 Institutionen, zum Teil mit mehreren Standorten, als außerschulische Forschungszentren anerkannt. Diese Institutionen werden in der Regel durch Sponsoren und Unterstützer der Einrichtungen sowie durch die Kommunen, Unternehmen, Kammern, Verbände der Wirtschaft, Chemie-Verbänden und ggf. durch Hochschulen finanziert. Eine zusätzliche Förderung durch das Kultusministerium erfolgt durch Zuweisung von Anrechnungsstunden für Lehrkräfte.
Die als außerschulische Forschungszentren anerkannten Einrichtungen fördern durch außerunterrichtliche Angebote das entdeckende, forschungs- und praxisorientierte naturwissenschaftlich-technische Lernen von Kindern und Jugendlichen und geben wichtige Impulse für die Unterrichtsentwicklung und den Aufbau einer neuen Lernkultur im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Durch vielfältige Angebote unterstützen die außerschulischen Forschungszentren interessierte und motivierte Schülerinnen und Schüler bei ihrer Kompetenzentwicklung im MINT-Bereich und leisten insbesondere auch einen wertvollen Beitrag zur Begabtenförderung in Naturwissenschaft und Technik. Die außerschulischen Forschungszentren sind zugleich auch Garanten für das gute Abschneiden von Schülerinnen und Schülern aus Baden-Württemberg bei nationalen und internationalen Science-Wettbewerben.
Eine Vielzahl von Stiftungen fördert bundesweit junge talentierte Menschen durch Stipendien und Bildungsprogramme. Gibt es in Baden-Württemberg auch Stipendien, die sich direkt an Schüler und Studierende im Land richten?
Das Stipendienprogramm »Talent im Land« der Baden-Württemberg-Stiftung unterstützt zum Beispiel begabte Schülerinnen und Schüler aus Baden-Württemberg, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft Hürden auf ihrem Weg zum Abitur oder zur Fachhochschulreife zu überwinden haben. Durch finanzielle Förderung, ein begleitendes Seminarprogramm und individuelle Beratung werden Jugendliche aus Baden-Württemberg dabei unterstützt, die eigenen Begabungen zu entfalten und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Daneben gibt es weitere Stipendienprogramme, über die man sich auch hier im LänderSPECIAL informieren kann.
Eltern, Schüler und Lehrkräfte brauchen Beratung und Unterstützung bei individuellen Fragen zur Begabungsförderung. Wie ist die professionelle Beratung in Baden-Württemberg organisiert? Welche Rolle spielt hier das Kompetenzzentrum für Hochbegabtenförderung? Und wo finden Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg die Möglichkeit zur qualifizierten Fortbildung?
Das Kompetenzzentrum für Hochbegabtenförderung übernimmt bei der systematischen Förderung besonders Begabter eine Scharnierfunktion in Baden-Württemberg: Zum einen erfüllt es landesweite Aufgaben, um die Hochbegabtenförderung in der Breite im Land zu unterstützen und zu begleiten. Zugleich ist es aber auch eine Abteilung des Landesgymnasiums für Hochbegabte und damit in die praktische Arbeit mit Hochbegabten eingebunden. Das Kompetenzzentrum ist zentrale Anlaufstelle für Ratsuchende: Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler und andere, etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter. Es organisiert Tagungen und Fortbildungen für Multiplikatoren im Land sowie für Einzelschulen, bündelt die bestehenden Erkenntnisse zum Thema Hochbegabung und leistet damit einen zentralen Beitrag zum Expertisenaufbau im Land. Dazu ist es auch im Kontakt mit wissenschaftlichen Einrichtungen. Zudem koordiniert das Kompetenzzentrum die landesweite Umsetzung der gemeinsamen Förderinitiative von Bund und Ländern zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler »Leistung macht Schule« (LemaS).
2018 ist die Bund-Länder-Förderinitiative »Leistung macht Schule« an den Start gegangen, um bessere Entwicklungsmöglichkeiten für leistungsstarke und leistungsfähige Schülerinnen und Schüler zu schaffen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. In Baden-Württemberg sind 39 Pilotschulen ausgewählt worden, gemeinsam mit Wissenschaftlern didaktische Konzepte zur Förderung zu entwickeln. Welche nächsten Umsetzungsschritte stehen für Ihr Bundesland an, Frau Stuhrmann, und wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Begabungsförderung in Baden-Württemberg ein?
In Baden-Württemberg haben wir in der Umsetzung der Bund-Länder-Förderinitiative darauf geachtet, dass die beteiligten Schulen überschaubare regionale Netzwerke bilden, in denen jeweils unterschiedliche Schularten vertreten sind – von der Grundschule über die Werkreal- und Realschule bis zur Gemeinschaftsschule und zum Gymnasium. Das unterstützt die Entwicklung von Netzwerkstrukturen schon in dieser ersten Phase des Projekts. Innerhalb dieser regionalen Netzwerke arbeiten unsere Schulen zusammen mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ganz unterschiedlichen Teilprojekten der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Die Themen im Bereich der Unterrichtsentwicklung reichen von der diagnosebasierten individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern im Regelunterricht der MINT-Fächer über adaptive Formate sprachlich-literarischer Förderung im Fach Deutsch oder Individualisierung durch Mentoringkonzepte, um nur drei Beispiele herauszugreifen. Und natürlich geht es auch um Fragen der Schulentwicklung wie die Entwicklung eines schulischen Leitbilds mit Ausrichtung auf eine leistungsförderliche Schulentwicklung.
Die bestehenden Angebote der Hochbegabtenförderung am Landesgymnasium, an den Gymnasien mit Hochbegabtenförderung und zukünftig an einem MINT-Exzellenzgymnasium mit Internat in Bad Saulgau, das der Ministerrat Ende 2017 im Grundsatz beschlossen hat und an dessen Konzeption wir derzeit arbeiten, und der Ansatz der Potenzialförderung, der der Förderinitiative Leistung macht Schule zugrunde liegt, ergänzen sich dabei optimal - ganz im Sinne unseres Ziels, allen unseren Schülerinnen und Schüler mit ihren individuellen Begabungen, Fähigkeiten und Interessen ein vielfältiges Bildungsangebot zur Verfügung zu stellen.