Zu Matthias Zwerschke
Matthias Zwerschke ist Leiter des für die Begabtenförderung zuständigen Referats »Schulaufsicht für Gymnasien und Gesamtschulen« im Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin.
Herr Zwerschke, für Mecklenburg-Vorpommern ist »Individuelle Förderung« kein leeres Bildungsversprechen. Auf welchem Selbstverständnis beruht in Ihrem Bundesland die Talentförderung von Kindern und Jugendlichen?
Betrachten wir die Koalitionsvereinbarungen für die letzten Wahlperioden wird ersichtlich, dass der Ausbau der Begabtenförderung und der Profilbildung an Gymnasien und Gesamtschulen stetig weiterentwickelt wird. Dazu gehören im Besonderen die zusätzlich eingerichteten 35 Lehrerstellen für die Begabtenförderung und 14 Lehrerstellen für die Profilbildung in den Bereichen MINT, humanistische Bildung / Alte Sprachen und Niederdeutsch an Gymnasien und kooperativen Gesamtschulen. Das Ziel ist, engagierten leistungsstarken und potenziell besonders leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern besondere Bildungsangebote zu machen.
Steht dies im Widerspruch zur Inklusionsstrategie, deren Umsetzung im Bildungsbereich Mecklenburg-Vorpommern beschlossen hat?
Alle Kinder und Jugendlichen mit besonderen Förderbedarfen und Interessen stehen im Vordergrund schulischer Inklusion, das heißt sowohl die mit Benachteiligungen als auch diejenigen mit besonderen Begabungen. Die Begabtenförderung in Mecklenburg-Vorpommern hat das Ziel, die individuellen Begabungen aller Schülerinnen und Schüler zu entdecken, zu stärken und zu fördern und ist eine grundlegende Aufgabe aller Schularten.
Der damit verbundene Anspruch, alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Talenten, Begabungen und Neigungen umfassend und individuell zu fördern, braucht eine differenzierte schulische Begabtenförderung. Wie sieht die Förderung an den Schulen in Mecklenburg-Vorpommern aus?
Die Grundschulen des Landes sind so gestaltet, dass alle Schülerinnen und Schüler ihren Möglichkeiten entsprechende Lern- und Entwicklungschancen erhalten. Der binnendifferenzierte Unterricht wird auf die individuellen Lernprozesse abgestimmt. Für besonders begabte Schülerinnen und Schüler sind gleichermaßen alle Möglichkeiten der Förderung, wie zum Beispiel Flexibilität beim Einschulungsalter, Überspringen von Jahrgangsstufen, effektive Lernstrategien, Teilungsunterricht, Unterricht in höheren Klassen und Teilnahme an außerschulischen Bildungsangeboten zu nutzen. Für besonders begabte Schülerinnen und Schüler mit festgestellter Hochbegabung arbeitet in jedem der vier Schulamtsbereiche ein speziell eingerichtetes Gymnasium mit überregionalen Förderklassen für die Beschulung von diagnostiziert kognitiv hochbegabten Schülerinnen und Schülern ab Jahrgangsstufe 5. Darüber hinaus fördern 14 Profilschulen in den Bereichen MINT, Humanistische Bildung / Alte Sprachen und Niederdeutsch besonders zielgerichtet.
Dies schließt auch die Förderung von musikalisch und sportlich besonders begabten Schülerinnen und Schülern ein?
Musikalisch und sportlich besonders begabte Schülerinnen und Schüler werden an den drei Musik- und zwei Sportgymnasien in ihrer individuellen Leistungsentwicklung gefördert und gestärkt.
Eine solch differenzierte Förderung stellt einen hohen fachlichen Anspruch an die pädagogische Arbeit von Fachkräften. Wo finden Erzieherinnen und Erzieher wie auch Lehrkräfte und Schulleitungen qualifizierte Fortbildung und Unterstützung im Land?
Für die pädagogische Arbeit und Fortbildung der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und für Tagespflegepersonen ist vom Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung und seinen Partnern in Abstimmung mit den Rahmenplänen der Grundschulen die »Bildungskonzeption für Kinder von 0 bis 10 Jahren« entwickelt worden. Zahlreiche regionale Partner bieten Fortbildungsprogramme für Erzieherinnen und Erzieher auf der Grundlage dieser Bildungskonzeption an. Die Lehrkräfte und pädagogischen Fachkräfte an den Schulen in Mecklenburg-Vorpommern erhalten Fort- und Weiterbildungen unter anderem in Veranstaltungen des Instituts für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern (IQ M-V), in Fortbildungsveranstaltungen in Kooperation mit dem IQ M-V und in anerkannten Lehrerfortbildungen externer Fortbildungsträger. Lehrerinnen und Lehrer werden so insbesondere bei der Weiterentwicklung ihrer pädagogischen und fachlichen Kompetenzen, der nachhaltigen Entwicklung des Unterrichts und bei Schulentwicklungsprozessen unterstützt.
Individuelle Förderung benötigt daneben auch geeignete Lernorte außerhalb der Schule. Welche außerschulischen Förderangebote und Kooperationen sind charakteristisch für Mecklenburg-Vorpommern?
Neben Frühstudienprogrammen und Projekttagen in Schülerlaboren an Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen nehmen die Schülerinnen und Schüler in Mecklenburg-Vorpommern unter anderem an zahlreichen Wettbewerben und Olympiaden auf verschiedenen Ebenen teil. Das Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung sowie das IQ M-V unterstützen zahlreiche Wettbewerbe bzw. die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler an diesen.
Nicht nur Lehrkräfte, auch Eltern und Schülerinnen und Schüler suchen Rat und Unterstützung bei ihren persönlichen Fragen zur Begabtenförderung. Wo finden sie professionelle Beratung in Mecklenburg-Vorpommern?
Die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen im Zentralen Fachbereich für Diagnostik und Schulpsychologie (ZDS) unterstützen und beraten Schülerinnen und Schüler und deren Eltern unter anderem bei Lern- und Leistungsproblemen, bei der Einschulung des Kindes, der Gestaltung der Schullaufbahn und bei Verhaltensauffälligkeiten des Kindes. Darüber hinaus führen sie auch die Diagnostizierung von Hochbegabungen durch. Die Servicestellen Inklusion beraten unter anderem zu Möglichkeiten der inklusiven Beschulung, zu geeigneten Lernorten in der Region, zu schulischen und außerschulischen Hilfs- und Förderangeboten und koordinieren vorhandene Unterstützungsangebote.
Bereits im November 2016 ist die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern ins Leben gerufen worden, um bessere Entwicklungsmöglichkeiten für leistungsstarke und leistungsfähige Schülerinnen und Schüler zu schaffen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. Die entwickelten Strategien und Konzepte werden der Schulpraxis anschließend zur Verfügung gestellt. Welche nächsten Umsetzungsschritte stehen hier für Mecklenburg-Vorpommern an, Herr Zwerschke, und wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Begabtenförderung in Ihrem Bundesland ein?
Start der zehnjährigen Initiative war im Januar 2018. In der ersten Phase wurde ein Qualifizierungsprogramm zur Personal-, Schul- und Netzwerkentwicklung erfolgreich an den ausgewählten Grundschulen und Gymnasien umgesetzt. Dieser Prozess wurde wissenschaftlich begleitet und kontinuierlich evaluiert um adressatengerechte Materialien für die Begabungsförderung zu konzipieren. Die so entstandenen Produkte finden im weiteren Verlauf der Initiative ihre gezielte Anwendung. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Forschungsverbund als Zusammenschluss renommierter Universitäten, die den Übergang zwischen den beiden Phasen wissenschaftlich begleiten. Im Herbst 2023 erfolgte der Auftakt der zweiten Phase, der Transferphase, in der die Schulen der ersten Phase ihre neu erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen an weitere Schulen des Landes multiplizieren. Die 20 neuen Schulen, unter diesen auch Kooperative und Integrierte Gesamtschulen, durchlaufen ebenfalls verschiedene Qualifizierungsangebote des Forschungsverbundes Nord und der Karg Stiftung, bilden zugleich aber auch inhaltlich differenzierte, schulartübergreifende Subnetzwerke mit den Schulen der ersten Phase. Dieser komplexe Prozess wird durch das Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung gesteuert und durch das Institut für Qualitätsentwicklung M-V begleitet. Mit der Karg Stiftung haben wir zusätzlich einen kompetenten Partner in der Begabungsförderung an unserer Seite, der auf eine mehr als 30jährige Erfahrung in diesem Gebiet zurückgreifen kann.