Interview mit Dr. Karin Greve
ehemalige Referatsleiterin im Referat Grundschulen, sonderpädagogische Förderung, Begabtenförderung, Wettbewerbe im Ministerium für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt
Frau Dr. Greve, auf welchem Selbstverständnis beruht in Sachsen-Anhalt die Begabtenförderung von Kindern und Jugendlichen?
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Begabungen, Neigungen, Interessen oder Fähigkeiten und damit die Förderung besonders leistungsstarker und leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler zählten und zählen zu den grundlegenden Bildungs- und Erziehungsaufträgen der Schulen. Dieser Auftrag ist im Schulgesetz festgelegt und wird in den Schulen durch Unterrichtskonzepte und Schulprogrammarbeit untersetzt und in der Praxis umgesetzt.
Darüber hinaus können die Schulen auf ein breites Angebots- und Unterstützungssystem zurückgreifen, um diesen grundsätzlichen Bildungsauftrag mit Leben zu füllen. Der Runderlass zur Begabtenförderung im Land Sachsen-Anhalt führt sowohl die schulischen, als auch außerschulischen Möglichkeiten auf.
Die Schulen sind aufgefordert, besondere Leistungspotenziale von Kindern und Jugendlichen frühzeitig zu erkennen. Dazu nutzen sie zum Beispiel Lernentwicklungsbeobachtungen und Lernentwicklungsgespräche. Wird eine Hochbegabung vermutet, die ggf. eine darauf aufbauende individuelle Lernprozessgestaltung erfordert, können die Schulen neben ihren eigenen diagnostischen Erkenntnissen das diagnostische Angebot der BRAIN-ST-Beratungsstelle zur Unterstützung einbeziehen. Ziel ist es, ein angepasstes und dem Einzelfall angemessenes Arrangement an Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten anzubieten. Sollte die Schule Beratungsbedarf haben, hat sie die Möglichkeit, auf die Erfahrungen von Netzwerkschulen zurückzugreifen, sich an die Koordinierungsstelle zu wenden oder sich bedarfsgerechte Fortbildungsangebote auszusuchen.
Auf schnelleres Lernen, intensiveres Durchdringen kann unter anderem mit Akzelerationsmaßnahmen reagiert werden, wie zum Beispiel das Überspringen eines Schuljahres, oder mit sogenannten Enrichmentangeboten, die die Unterrichtsangebote ergänzen, vertiefen und ggf. auch erweitern.
Neben den unterrichtsimmanenten und unterrichtsintendierten Fördermöglichkeiten gibt es vielfältige außerschulische Angebote in Form von Olympiaden, Wettbewerben, Sommercamps, Schülerakademien, Landesseminaren u.a.m.
Sie erwähnen die Netzwerkschulen. Was genau sind Netzwerkschulen? Was zeichnet sie aus?
Netzwerkschulen sind Schulen, die sich besonders aktiv und breit mit Fragen der Begabtenförderung auseinandersetzen und ihre Schulprogrammentwicklung insbesondere diesem pädagogischen Schwerpunkt widmen. An diesen Schulen gibt es Lehrkräfte, die sich in besonderer Weise qualifiziert haben (Lernbegleiter), um den Lehrkräften, den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern beratend und unterstützend zur Seite zu stehen.
An den Netzwerkschulen werden didaktisch-methodische Vorgehensweisen im Unterricht analysiert und deren Wirkung auf die Förderung von Leistungspotenzialen bewertet. In Netzwerkschulen gibt es einen regen fachlichen Austausch zur Begabtenförderung, um die Unterrichtsqualität entsprechend zu sichern. Lernentwicklungsgespräche und Zielvereinbarungen gehören zum Schulalltag. Die Netzwerkschulen haben sich als solche beworben und wurden nach Prüfung nominiert.
Das Gütesiegel ist eine besondere Form der Anerkennung für das Bemühen der Netzwerkschulen um die Qualität in der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Fähigkeiten, Interessen und fachlichen Neigungen.
Netzwerkschulen sind ausgewählte Grundschulen und weiterführende Schulen, die regional als Ansprechpartner für Schulen zur Verfügung stehen. Sie sind daher an unterschiedlichen Standorten im Land, um ein möglichst flächendeckendes Angebot vorzuhalten. Das im Land angestrebte Netz an Netzwerkschulen ist nahezu vollständig, so dass der Schwerpunkt auf die Qualitätssicherung gerichtet ist.
Eine solche individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern verlangt besonders qualifizierte Lehrkräfte. Wie werden Lehrerinnen und Lehrer in Sachsen-Anhalt hierauf vorbereitet?
Das Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung (LISA) bietet ein breites Spektrum an Fort- und Weiterbildungsangeboten an. Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte unter dem Aspekt der Begabtenförderung sind regelmäßig im Angebot. Über sogenannte Abrufangebote können die Lehrkräfte die Fort- und Weiterbildungsangebote auswählen, die sie für ihre pädagogische Arbeit als besonders bedeutsam empfinden. Für Lehrkräfte mit besonderen Aufgaben in der Begabtenförderung werden aufgabenorientierte Fortbildungskurse oder -reihen vorgehalten, so zum Beispiel für die Qualifikation von Lernbegleitern an Netzwerkschulen.
Im Rahmen der Lehrkräfteausbildung gibt es Ausbildungsmodule, in denen die künftigen Lehrkräfte etwas zur Begabtenförderung erfahren und sich mit den verschiedenen Möglichkeiten der Förderung auseinandersetzen.
Auch Eltern, Schülerinnen und Schüler suchen Rat und Unterstützung bei ihren Fragen zur Begabtenförderung. Wo finden sie professionelle Beratung in Sachsen-Anhalt?
Wenn Eltern oder Schülerinnen und Schüler Rat und Unterstützung suchen, haben sie verschiedene Möglichkeiten. Zunächst ist davon auszugehen, dass sie an der besuchten Schule einen Ansprechpartner finden, der ihre Fragen entgegen nimmt. Können diese in der Schule nicht beantwortet werden, können die Lernbegleiter der Netzwerkschulen hinzugezogen werden. Diese wiederum können sich bei der Koordinierungsstelle im LISA die notwendigen Informationen geben lassen oder suchen ein gemeinsames Klärungsgespräch mit den Eltern und ihren Kindern in der Koordinierungsstelle im LISA.
Geht es darum, festzustellen, ob es sich um eine Hochbegabung handelt, ist die BRAIN-ST-Beratungsstelle der geeignete Ansprechpartner für Rat und Unterstützung.
Das Landesschulamt (LSchA) ist für viele Eltern gleichermaßen erste Ansprechstelle für Fragen. Es bietet neben Beratungen zu Einzelfällen und schulischen Laufbahnen die Kontakte zu den vorher benannten Stellen an und ist entscheidender Partner, wenn es um die Festlegung von konkreten Schullaufbahnen geht.
Mit anderen Worten, Rat und Unterstützung findet sich auf verschiedenen Ebenen. Je nach Beratungsbedarf und –umfang werden nur ausgewählte Ansprechpartner eingebunden oder mehrere, die gemeinsam, koordiniert oder abgebend agieren.
Und welche besonderen außerschulischen Förderangebote ergänzen die unterrichtlichen Maßnahmen in Sachsen-Anhalt?
Außerschulische Förderangebote werden in vielfältiger Weise unterbreitet. Aufzuzählen wären hier die Wettbewerbe im besonderen Landes- oder Bundesinteresse, Sommercamps, die Landesschülerakademie an der Hochschule Anhalt oder die Landesseminare. Darüber hinaus gibt es Juniorakademien oder Schülerakademien, die bundesweit angeboten werden. Die Schülerinnen und Schüler wählen entsprechend ihres Interesses die Angebote aus, die sie besonders anregend finden und die ihnen im besonderen Maße geeignet scheinen, ihre Leistungspotenziale zu entfalten oder ihre Fähigkeiten zu vertiefen. Bei den Bewerbungen werden sie von ihren Schulen unterstützt.
Im November 2016 ist die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern ins Leben gerufen worden, bessere Entwicklungsmöglichkeiten für leistungsstarke und leistungsfähige Schülerinnen und Schüler zu schaffen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. In jedem Bundesland sollen zunächst Pilotschulen über einen Zeitraum von fünf Jahren Konzepte zur Förderung erarbeiten. Die entwickelten Strategien und Konzepte werden der Schulpraxis anschließend zur Verfügung gestellt. Welche nächsten Umsetzungsschritte stehen hier für Sachsen-Anhalt an, Frau Dr. Greve, und wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Begabtenförderung in Sachsen-Anhalt ein?
Die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern für bessere Entwicklungsmöglichkeiten für leistungsstarke und leistungsfähige Schülerinnen und Schüler, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status, stärkt den grundsätzlichen Auftrag von Schule und gibt ihm einen neuen Anstoß. Mit dem Vorhaben, Strategien und Konzepte für die Schulpraxis zu entwickeln und diese anschließend allen Schulen zur Verfügung zu stellen, wird die Arbeit der Schulen zukünftig in diesem Bereich angereichert und unterstützt und die Qualität der Unterrichtsarbeit bereichert.
Sachsen-Anhalt beteiligt sich daher an der Initiative. Es wirbt insbesondere bei den bereits vorhandenen Netzwerkschulen um Mitwirkung und hat die Ausschreibung daher an diese gerichtet. Dadurch sollen vorhandene Kapazitäten und Erfahrungen in die Initiative eingebracht sowie Strukturen des Netzwerkes genutzt werden. Vom Netzwerk ausgehend sind dann die gewonnenen neuen Erkenntnisse in die Fläche zu transportieren und ggf. zu implementieren. Aber bis dahin bedarf es noch zahlreicher Schritte, die Zeit in Anspruch nehmen. Den zweiten Schritt kann man bekanntlich nicht vor dem ersten tun.
Bei der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit hohen Leistungspotenzialen und besonderen Begabungen wird auch zukünftig das besondere Augenmerk auf die Unterrichtsqualität zu richten sein. Die bisherigen schulischen und außerschulischen Angebote gilt es weiter zu entwickeln, sie inhaltlich zu qualifizieren und ggf. auszubauen, schrittweise den Bedarfen anzupassen.
Auch dazu erhoffen wir uns einen unterstützenden Beitrag durch die Bund-Länder-Initiative.
Das Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung (LISA) ist federführend in die Arbeit im Rahmen der Initiative eingebunden. Herr Dr. Richter – Stellvertretender Leiter des LISA – vertritt unser Land in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Initiative und koordiniert die Tätigkeiten. Dazu bindet er vorrangig die Koordinierungsstelle für Begabtenförderung, die im LISA verortet ist, mit ein.
Mit diesem Arrangement an Möglichkeiten der Leistungsförderung gehen wir davon aus, aktiv in der Initiative mitwirken zu können und für die Begabtenförderung im Land Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu eruieren und umzusetzen. Die Begabtenförderung ist und bleibt eine Daueraufgabe im Bildungsbereich. Dabei muss der Bildungsbereich auf verlässliche Partner, besonders in Wirtschaft und Wissenschaft, zurückgreifen können. Nur gemeinsam kann es gelingen, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Weg der Schülerinnen und Schüler zu leistungsfähigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den wirtschaftlichen Einrichtungen, in Betrieben, an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vorbereiten.
Herzlichen Dank!